- Politik
- Streiks in den USA
Die Zeichen stehen auf Arbeitskampf
Die Streiks in den USA könnten sich in nächsten Tagen deutlich ausdehnen
In den USA beginnt gerade eine Streikwelle. Schon bald könnten über 100 000 US-Arbeiter*innen in verschiedenen Industriezweigen im Ausstand sein: über 10 000 Beschäftigte beim Erntemaschinenhersteller John Deere, Tausende Krankenschwestern an der Ost- und Westküste, und in der Filmbranche könnten es sogar bis zu 60 000 sein. In Hollywood und an anderen Orten der Film- und Fernsehproduktion könnten erstmals die Set-Mitarbeiter*innen in den Ausstand gehen. In Kalifornien und Oregon stimmen dieser Tage rund 37 000 Krankenpfleger*innen über Streiks bei Krankenhausketten ab, in New York befinden sie sich bereits im Streik. Sie wollen Verschlechterungen etwa bei der Gesundheitsversicherung abwehren und bessere Bezahlung durchsetzen, auch angesichts eines Burnouts bei vielen Mitarbeiter*innen durch die Pandemie.
Im Mittleren Westen, in Iowa, Illinois und Kansas, haben schon Anfang September rund 99 Prozent der Mitglieder der Gewerkschaft United Auto Workers bei John Deere für einen Streik gestimmt. Sie sind offenbar unzufrieden mit den Tarifverhandlungen und der Informationspolitik ihrer Gewerkschaft. Der Erntemaschinenhersteller hat letztes Jahr Rekordprofite gemacht, verlangt nun aber Einschnitte bei der Gesundheitsversicherung von der Gewerkschaft. Im Pazifikstaat Washington streiken bereits 2000 Zimmerleute auf verschiedenen Baustellen. 2000 Mitarbeiter*innen beim Kommunikationskonzern Frontier in Kalifornien tun es ebenfalls. Seit Dienstag dieser Woche streiken 1400 Mitarbeiter*innen des Zerealien-Herstellers Kellogg in vier Bundesstaaten. An den Eliteuniversitäten Harvard und Columbia sowie der Illinois State University stimmte vor wenigen Tagen ebenfalls ein hoher Prozentsatz der gewerkschaftlich organisierten studentischen Beschäftigten für den Arbeitskampf. In Ohio, Texas und Massachusetts streiken Beschäftigte unterschiedlicher Industrien und Firmen oder haben sich per Abstimmung dazu bereit erklärt.
»Wenn all diese Arbeiter*innen - vor allem die Filmcrew-Beschäftigten - tatsächlich in den Streik treten, dann wird das deutlich die Zahl der Beschäftigten übertreffen, die bisher in einem Monat im Jahr 2021 gestreikt haben«, sagt Streikforscher Johnnie Kallas von der Cornell University gegenüber »nd«. Anders als die Tageszeitung »The Guardian« und andere Beobachter ist Kallas aber vorsichtig, dies als Streikwelle zu bezeichnen - weil es kaum verlässliche Daten gibt.
Bis 1982 erfasste das US-Arbeitsministerium alle Streiks mit mehr als sechs Teilnehmer*innen, die mindestens eine Schicht lang dauerten. Danach ließ die Reagan-Administration nur noch große Streiks mit mehr als 1000 Beteiligten durch die Zentralregierung zählen. »In den 70er Jahren gab es eine viel höhere Streikaktivität, als wir bisher für 2021 dokumentiert haben«, sagt Kallas. Von über 200 großen Streiks in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg fiel deren Zahl in den 80er und 90er Jahren auf nur noch rund drei Dutzend pro Jahr. Ab der Jahrtausendwende waren es jährlich nur noch etwas mehr als ein Dutzend. Streikten in den 80er noch jährlich 500 000 bis eine Million Arbeiter*innen, waren ab der Jahrtausendwende nur noch rund 100 000 Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen beteiligt.
2018 und 2019 stieg ihre Zahl in mehreren Bundesstaaten wieder auf über 400 000, getragen vor allem durch Lehrer*innenstreiks. Im Pandemiejahr 2020 jedoch fiel diese Zahl erneut auf den zweitniedrigsten Wert seit 1950 mit nur 27 000 Beteiligten bei acht großen Streiks. Nur im Finanzkrisenjahr 2009 gab es laut Arbeitsministerium noch weniger Streikaktivität. Doch Gewerkschaftsjournalisten wie Mike Elk von Payday Report haben allein für 2020 rund 1200 Streiks und Arbeitsproteste gezählt - wenn auch viele eher symbolisch waren.
Dieses Jahr beteiligten sich laut den letzten Regierungszahlen von Anfang September bisher 16 500 Beschäftigte an acht großen Streiks. Forscher*innen der Cornell University kritisieren, die Zahlen des Arbeitsministeriums würden einen wichtigen Teil der Streikaktivität im Land nicht erfassen, weil rund 60 Prozent der Beschäftigten im Privatsektor in Unternehmen mit weniger als 1000 Mitarbeitern beschäftigt sind. Sie haben deswegen das Projekt »Labor Action Tracker« gegründet, um auch kleine Streiks im Land zu erfassen. Für dieses Jahr haben sie bis Anfang Oktober bereits 169 Streiks erfasst, zehn waren es seit Anfang Oktober, das zeige »zunehmenden Aufbau von Handlungsmacht durch Arbeiter«, so Kallas. Davon könnten die Gewerkschaften profitieren, wieder mehr Mitglieder gewinnen und ihre Position verbessern. »Viele Unternehmen suchen dringend Arbeitskräfte, deswegen sind Beschäftigte gerade in einer guten Position«, sagt Streikforscher Kallas. Nach monatelanger Arbeit unter Pandemiebedingungen »an der Frontlinie« würden viele Beschäftigte im Tourismus-, Gesundheits- und Lebensmittelsektor, aber auch in der verarbeitenden Industrie angesichts gefährlicher Arbeitsbedingungen höhere Löhne fordern, sagt er.
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von Anjana Shrivastava
Viele Gesundheitskonzerne etwa haben Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen; es steht keine relevante »Reservearmee« bereit, um Streikende zu ersetzen. Nach anderthalb Jahren Pandemie überdenken viele Menschen in den USA ihr Arbeitsleben, wollen nicht den erstbesten Job annehmen - trotz Arbeitslosenrate von über fünf Prozent: Zum ersten Mal überschritt die Zahl der offenen Jobs schon im Juni die Zehn-Millionen-Marke, betroffen ist vor allem der Dienstleistungs-, Tourismus- und Sozialsektor. Auch die wegen der Pandemie quasi zum Erliegen gekommene reguläre Arbeitsmigration stärkt die Verhandlungsposition der Beschäftigten. Während die Rate der Entlassungen gleich geblieben ist, stieg die der Kündigungen durch Beschäftigte. Zum Teil erscheinen Arbeiter*innen im Hire-and-Fire-Land USA einfach nicht mehr zur Arbeit, weil sie einen besseren Job gefunden haben. Das sorgt bereits jetzt für höhere Löhne: Laut der US-Zentralbank Fed stieg der durchschnittliche Stundenlohn seit August letzten Jahres um 4,3 Prozent, im vorher besonders niedrig entlohnten Gastgewerbe sogar um zehn Prozent.
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