Klimagerechtigkeit ist Teil der sozialen Gerechtigkeit

Thesen zum Wahlergebnis der Linkspartei und erste Schlussfolgerungen

  • Bernd Riexinger
  • Lesedauer: 7 Min.

In die Debatte der Linkspartei nach dem Beinahe-Ausscheiden aus dem Bundestag bei der Wahl am 26. September hat sich nun auch der langjährige Parteivorsitzende Bernd Riexinger eingeschaltet. Riexinger, der von 2012 bis 2021 gemeinsam mit Katja Kipping Die Linke geführt hatte, beschäftigt sich in einem ausführlichen Thesenpapier neben den Ursachen der Wahlniederlage auch mit politischen Konsequenzen. So fordert er »eine Neuaufstellung in der Bundestagsfraktion«. Das Bündnis »von Teilen der Reformer mit den Traditionalisten um Wagenknecht« habe die Fraktion gelähmt. Dieses Bündnis habe wenige politische Gemeinsamkeiten und sei hauptsächlich machtpolitisch begründet. »Eine Fortsetzung wäre inhaltlich perspektivlos«, so Riexinger. Zur Neuorientierung gehöre »die Anerkennung, dass die Partei das politische Zentrum ist und nicht die Fraktion. Es braucht in der Fraktion mehr Raum für politische Diskussionen, neue Ideen und Initiativen.«

Während der Pandemie sei der Zustand der Fraktion »besonders deutlich« geworden. Zwar habe es gute Anträge gegeben, etwa zur Kurzarbeit, »aber Themen wie Pflegenotstand, soziale Mindestsicherung oder die Situation der Familien hätten offensiver gesetzt werden müssen«.

Zur Person
Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, war von 2012 bis 2021 Vorsitzender der Linken, zusammen mit Katja Kipping. Der gelernte Bankkaufmann arbeitete viele Jahre als Gewerkschaftssekretär von Verdi in Stuttgart.

Für die weitere Profildebatte der Linkspartei formulierte Riexinger sieben Thesen, die hier dokumentiert werden:

1.
Wir müssen auf unserem Kernfeld der sozialen Gerechtigkeit bleiben und es um die Klimagerechtigkeit erweitern. Wenn wir als DIE LINKE Lösungen für die verschiedenen miteinander verbundenen Krisen im Kapitalismus (Klimakrise, soziale und wirtschaftliche Krise, hegemoniale Krise) aufzeigen wollen, dann werden wir die Idee des sozial-ökologischen Systemwechsels weiter entwickeln und für unsere Außenwirkung prägend machen müssen. Wenn mehr als 500.000 unserer Wähler*innen zu den Grünen gegangen sind, dann nicht, weil diese überzeugendere Antworten zur sozialen Gerechtigkeit haben, sondern weil sie Klimaschutz nach vorne wählen wollten und davon ausgingen, dass die Grünen auf jeden Fall Teil einer neuen Regierung sein werden. Das ist kein Mittelschichtsphänomen. Die Grünen haben auch bei Gewerkschaftsmitgliedern am stärksten zugelegt, während wir uns bei den Gewerkschafterinnen gegenüber dem Jahr 2017 fast halbiert haben. Auch bei Arbeiter*innen und Erwerbslosen haben die Grünen dazugewonnen. Der entscheidende Unterschied zu den Grünen besteht darin, dass wir keine marktwirtschaftlichen und unsozialen Lösungen, zum Beispiel über die Bepreisung der Emissionen, fordern, sondern klare Regulierung, den Umbau der Industrie und Wirtschaft mit dem Ziel der Emissionsfreiheit bis zum Jahr 2035, verbunden mit sozialen- und Arbeitsplatzgarantien, neuen Eigentumsformen und Wirtschaftsdemokratie. Es geht eben um einen Systemwechsel und nicht nur um Korrekturen, wie sie im neuen Koalitionsvertrag schon absehbar sind. Gute Konzepte für sozial-ökologisch ausgerichtete Investitionen, für den Ausbau und bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und bei der Bahn, ein Klima-Job-Programm sind in den letzten Jahren entwickelt worden.

2.
Dazu gehört auch die Perspektive eines neuen Wohlstandsmodells, in dem die Lebensqualität und das soziale Zusammenleben verbessert werden und im Einklang mit einer klimagerechten Wirtschafts- und Lebensweise stehen. Die in das Wahlprogramm und auch die Kampagnenarbeit eingeflossenen Ideen eines Infrastruktursozialismus (Ausbau des Öffentlichen und der öffentlichen Infrastruktur) ist zentrales Element eines attraktiven Zukunftsmodells. Selbstkritisch muss ich einräumen, dass wir diesen Schwerpunkt bereits nach der Bundestagswahl 2017 hätten setzen sollen, denn es dauert, bis dadurch das Außenbild der Partei prägt. Wenn wir das jetzt nicht konsequent machen, werden uns nicht nur viele Mitglieder und Anhänger*innen von der Fahne gehen, wir werden auch in vier Jahren nicht als Alternative zu den Grünen gelten.

3.
Wesentlicher Bezugsrahmen für linke Politik muss auch künftig die Vertretung der Interessen der Lohnabhängigen sein. Es ist kontraproduktiv, Milieus gegeneinander auszuspielen. Es geht um gemeinsame Interessen der verschiedenen, häufig gespaltenen Teile der Lohnabhängigen, also prekärer wie nicht-prekärer Gruppen, Fahrradkuriere im urbanen Milieu, Krankenpfleger*innen, Menschen in der sozialen Arbeit, wie auch Beschäftigte in der Automobil- und Zuliefererindustrie, die gerade besonderem Druck ausgesetzt sind, um migrantischen und nicht-migrantischen Beschäftigten gleichermaßen. DIE LINKE hat mit dem Ansatz der verbindenden Klassenpolitik den richtigen Weg eingeschlagen. Wir sollten unsere Öffentlichkeitsarbeit so weiterentwickeln, dass die verschiedenen Teile der lohnabhängigen Klasse ihre Erfahrungen und Geschichten darin wiedererkennen.

4.
Dazu gehört auch: Die Debatte zur Indentitätspolitik sollte nach vorne aufgelöst werden. Auch weiterhin muss DIE LINKE klar gegen jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung Position beziehen. Linke Identitätspolitik unterscheidet sich von liberaler und steht nicht im Gegensatz zur sozialen Frage, sondern ist Bestandteil davon. Die Debatte über Gendersternchen kann getrost als Ablenkungsmanöver betrachtet werden. Es geht um Antirassismus, klare Parteinahme für Geflüchtete und Migranten*innen, den Kampf gegen Rechts, gegen jede Form von Diskriminierung. DIE LINKE sollte den begonnenen Weg, dass Migrant*innen eine wichtige Stimme in der Partei sind und dort einen Ort der politischen Organisierung finden, fortsetzen.

5.
Es gibt jetzt Debatten, an der Außenpolitik Kurskorrekturen vorzunehmen. Richtig daran ist, dass wir die hegemonialen Krisen und neuen Kriegsgefahren auf der Höhe der Zeit analysieren sollten; und richtig ist, dass wir unsere Kommunikation verändern müssen. Es besteht kein Grund, unsere Position zur NATO und zu Auslandseinsätzen aufzuweichen. Aber es besteht Bedarf an einer Verständigung über sinnvolle friedenspolitische Schwerpunkte. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Frage der Auflösung der NATO unter unseren Anhänger*innen umstritten ist, fast die Hälfte ist gegen einen Austritt. Und sie ist laut Umfragen einer der Hauptgründe für SPD- und Grünen-Anhänger*innen, uns nicht zu wählen. Außerdem wird unsere Position einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland häufig damit verwechselt, wir würden an Putin andere Maßstäbe anlegen als zum Beispiel an Erdogan. Populär sind unsere Positionen gegen Aufrüstung, Waffenexporte und Kampfeinsätze der Bundeswehr. Bei diesen Punkten lassen sich auch Verbindungen zu verschiedenen sozialen und menschenrechtlichen Bewegungen herstellen. Glaubwürdigkeit in der Frage von Menschenrechten, Demokratie und Völkerrecht sind die Voraussetzungen dafür.

6.
Die Regierungsdebatte hat sich erst einmal erledigt. Wir machen jetzt vier Jahre Oppositionsarbeit. Wir brauchen auch die Debatten über den Sinn des Regierens nicht jedes Mal neu zu führen. Es ist weiterhin richtig, Regierungsfragen nicht nur an die Haltelinien zu binden (die verbindlich sind), sondern mit einem linken Reformprogramm zu verknüpfen. Also verbindliche politische Maßstäbe zu entwickeln, was wir mit einem Politikwechsel verbinden. Zum Verständnis linker Regierungsbeteiligungen gehört auch, dass unsere Politik von anderen uns nahestehenden Organisationen und Bewegungen unterstützt und zumindest dem Kern nach getragen wird.

7.
Der Bundestagsfraktion kommt als einziger linker Oppositionskraft eine wichtige Bedeutung zu. Es ist abzusehen, dass große Teile der Versprechungen von SPD und Grünen mit der FDP nicht zu machen sein werden. Sofort Wegfallen wird die Forderung nach Vermögenssteuer, damit fällt die Finanzierung wichtiger Investitionen. Die Verteilungsfrage wird also akut. Wahrscheinlich gibt es den gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro in mehreren Stufen, aber keine entscheidenden Regulierungsmaßnahmen der Arbeitsbeziehungen und Verbesserungen der Tarifbindung. Schwer vorstellbar sind Fortschritte bei der Rente und Kindergrundsicherung. Beim Wohnungsbau wird es sicherlich eine Verständigung für »Bauen, bauen, bauen« geben, aber kaum eine schärfere Regulierung zugunsten der Mieter*innen oder entscheidende Veränderungen beim sozialen Wohnungsbau in öffentlicher oder genossenschaftlicher Hand. Auch bei der Pflege wird es keine entscheidenden Änderungen geben, geschweige denn Entwicklungen in Richtung Bürgerversicherung. Dagegen wird es ein Investitionsprogramm zur Modernisierung der Wirtschaft geben, also Digitalisierung, Bildung, Infrastruktur zur Transformation. Beim Klimaschutz werden die Grünen Zugeständnisse bei der Bepreisung der Emissionen bekommen, verbunden mit marktwirtschaftlichen Elementen und dem Ausbau der regenerativen Energien. Vermutlich werden die Kosten auf die unteren und mittleren Einkommensbezieher*innen abgewälzt. Fundierte Kritik daran wird genauso wichtig sein, wie es darauf ankommen wird, eigene Alternativen anzubieten und mit einem linken Zukunftsentwurf verbinden.

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