- Politik
- Julian Reichelt und der Springer-Verlag
Sex, Lügen, Männerbünde
»Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt bringt das Unternehmen Axel Springer international in Verruf
Julian Reichelts Ära als Chefredakteur der »Bild« fand am Montagabend ihr seit Monaten überfälliges Ende. Neue Erkenntnisse hätten dazu geführt, dass der Axel Springer Verlag Julian Reichelt von seinen Aufgaben »entbindet«. Alphatier Reichelt stolpert jetzt über seinen fragwürdigen Umgang mit Mitarbeiterinnen, zu denen er nicht nur sexuelle Verhältnisse unterhielt, sondern die er auch mit Jobs und Verantwortung belohnte oder die er mit Entlassung abstrafte, so sie ihm denn nicht gefügig waren.
Der Stoff, der derzeit in der deutschen Medienlandschaft verhandelt wird, reicht für mindestens eine Streamingserie und weit über die Person Reichelt hinaus. Wer fürchtet, es könne erneut in eine dröge Dokumentationsserie ausarten, in der sich Reichelt und sein Team selbst beweihräuchern, wie das zuletzt über den Streamingdienst Amazon zu sehen war, der »Bild.Macht.Deutschland« bereitstellte, darf getrost aufatmen. Den Titel einer möglichen und sicher lohnenswerteren Fortsetzung stiftete quasi die »New York Times« mit dem Artikel »Sex, Lügen und eine geheime Zahlung«.
Im Artikel des Autors Ben Smith geht es nicht nur um Reichelt, der seine Scheidungsurkunde gefälscht haben soll, um im Complianceverfahren nicht negativ aufzufallen. Wichtiger noch ist eine Recherche, die eigentlich in Deutschland hätte erscheinen sollen. Ein Team von drei Journalist*innen, die ehemals für den Onlinenachrichtendienst »BuzzFeed« tätig waren und an dessen Spitze Juliane Löffler steht, hatte seit Monaten recherchiert, wie im Hause Axel Springer mit den Vorwürfen gegen »Bild«-Chefredakteur Reichelt umgegangen wurde. Reichelt war im März 2021 vorgeworfen worden, übergriffig insbesondere gegenüber jüngeren Mitarbeiterinnen gewesen zu sein. Von Machtmissbrauch und der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen war ebenso die Rede wie von Drogenkonsum am Arbeitsplatz. Zwar seien die Reichelt ebenfalls vorgeworfenen sexuellen Beziehungen einvernehmlich gewesen, jedoch fragwürdig, da er seine damalige Geschäftsführerposition dazu nutzte, Frauen, zu denen er sexuelle Beziehungen unterhielt, im Unternehmen mit Karrieren auszustatten. »Der Spiegel« titelte »Vögeln, fördern, feuern« und beschrieb Reichelts Verfehlungen.
Im Hause Springer beauftragte man die Rechtsanwaltskanzlei Freshfields, um mögliche Complianceverstöße zu überprüfen. Reichelt wurde öffentlichkeitswirksam beurlaubt, fraß zunächst einiges an Kreide und gestand die Vermischung von privaten und beruflichen Beziehungen ein. Das kostete ihn zunächst aber nur den Posten als Geschäftsführer der »Bild«-Gruppe.
Im täglichen Geschäft des Blattmachens sollte ihn fortan die Kollegin Alexandra Würzbach als Co-Chefredakteurin unterstützen. »Nach dem Abschluss des Complianceverfahrens waren wir erst mal ernüchtert, auch weil wir selbst in Hintergrundgesprächen Details erfahren haben, die aus unserer Sicht einen Rauswurf Reichelts eigentlich unumgänglich machten«, sagte Bildblog-Redakteur Moritz Tschermak gegenüber »nd«. »Das war zumindest unsere naive Einschätzung«, so Tschermak weiter, der sich für das Bildblog kritisch mit den deutschen Medien befasst.
Während diese Episode des Skandals schnell wieder abgehandelt war, recherchierten die »BuzzFeed«-Redakteur*innen rund um Juliane Löffler weiter. Auch, als »BuzzFeed Deutschland« vom Medienunternehmer Dirk Ippen aufgekauft und die Ippen-Investigativ-Abteilung entstand. Dass die tiefer gehenden Recherchen aus dem Hause Ippen vom Zeitungsverleger Dirk Ippen selbst gestoppt und eine Veröffentlichung untersagt wurde, sorgte jetzt für Bestützung und Protest. Ippen, der neben mehreren Regionaltiteln in Niedersachsen, Westfalen und Hessen auch die »Frankfurter Rundschau« besitzt, begründete den Eingriff damit, dem Mitbewerber Springer nicht schaden zu wollen.
Die gezeigte Macht der Verleger reicht offensichtlich bis über die Springer-Etagen hinaus. Dort ist es vor allem Mathias Döpfner, der als Vorstandsvorsitzender an Reichelt festhält. »Offenbar gab es bei Döpfner einen starken Glauben daran, dass Reichelt genau der richtige Mann für den Posten ist«, sagt Tschermak. In einer privaten Nachricht, die in der »New York Times« veröffentlicht wurde, bezeichnet Döpfner »fast alle anderen« Journalistinnen und Journalisten in Deutschland, außer Julian Reichelt, als »Propaganda-Assistenten«. Nur Reichelt stelle sich dem »neuen DDR Obrigkeitsstaat« entgegen. »Dass Döpfner diesen «mutigen» Kämpfer einfach so opfert, lässt sich zumindest bezweifeln«, sagt Tschermak.
Auch der »Spiegel« blieb am Thema, sprach mit betroffenen Frauen, die überwiegend eingeschüchtert waren und Angst vor Reichelts Rache hatten, der in internen Mails bereits Drohungen ausgesprochen hatte. Er wolle sich »gegen die wehren, die mich vernichten wollen, weil ihnen Bild und alles wofür wir stehen, nicht gefällt«, zitiert der »Spiegel«. Die Recherchen zeigen eine männlich und sexistisch geprägte Kultur innerhalb der »Bild«-Redaktion. Junge Frauen saßen demnach als Dekoration in Besprechungen und seien stets Reichelts Nachstellungen ausgesetzt gewesen. Wen er anziehend fand, belohnte er mit verantwortungsvollen Aufgaben, die oft auch oberhalb dessen lagen, was die Frauen eigentlich leisten wollten. Ein Verhalten, das »Bild«-intern nicht nur bekannt war, sondern wohl über Jahre geduldet wurde. Reichelt als triebgesteuertes Alphamännchen.
Als Nachfolger übernahm Johannes Boie, der vormals Chefredakteur der »Welt am Sonntag« war, nun die »Bild«. »Welt«-Geschäftsführer Ulf Poschardt findet keine Worte für die Opfer von Reichelts Eskapaden, mokiert jedoch die Schadenfreude der Reichelt-Kritiker*innen. »Zeit«-Journalistin Judith Liere zieht via Twitter eine andere Bilanz: »Reichelt ist halt schlicht und einfach über seinen Penis gestolpert. Volos und Praktikantinnen nachstellen und zum Sex ins Hotel, wie so ein Klischee-Chef aus dem vergangenen Jahrhundert.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.