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Andere Fragen, neue Antworten
In der sächsischen Linken sucht man nach Gründen für das Wahldebakel – auch auf unorthodoxen Wegen
Maximilian Becker hat sich nach dem Wahldebakel seiner Partei vor die Kaufhalle gestellt. Der 30-jährige Leipziger sitzt im Bundesvorstand der Linken, die bei der Bundestagswahl an der Fünfprozenthürde scheiterte und nur dank dreier Direktmandate weiter im Parlament vertreten ist. Becker hängte sich eine Tasche mit dem Parteilogo um, nahm ein Klemmbrett in die Hand und fragte: Warum habt ihr uns nicht gewählt?
Es ist eine Frage, die dieser Tage viele Genossen stellen, zu oft aber innerhalb der Partei. »Wir schmoren zu sehr im eigenen Saft«, sagt Becker. Er fand es hilfreicher, sich bei jenen umzuhören, die die Linke erreichen will, in zu großer Zahl aber nicht erreicht hat. Eine ähnliche Idee entstand im »Linxxnet«, einem offenen linken Büro um die Leipziger Landtagsabgeordneten Jule Nagel und Marco Böhme. Unmittelbar nach der Wahl stellte man dort ein Formular ins Netz, über das Interessierte mitteilen konnten, was die Partei falsch gemacht hat und was sie besser machen soll. Binnen weniger Tage gab es 119 Antworten, sagt Fabian Blunck, Mitarbeiter im Linxxnet. Seitenlange Texte, offenherzige Auskünfte: »Wir waren total überwältigt.«
Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Zwar habe sich über das Formular »nicht nur unsere Blase« gemeldet, sagt Blunck: Großstadtlinke, die sich um Geschlechtergerechtigkeit ebenso kümmern wie um Mietfragen. Einige hätten freimütig eingeräumt, die Linke noch nie gewählt zu haben; andere sahen das Büro offenkundig als Bastion des Linksextremismus und verlangten eine Distanzierung von linker Gewalt. Auch Becker traf in knapp 30 Gesprächen binnen 90 Minuten auf etliche Menschen, bei denen die Linke auf Stein beißen würde, ganz gleich, wie sie sich präsentiert. Andere jedoch gaben gern Auskunft, sagt er: »Die Leute sind interessiert.«
Die Antworten, die Becker wie auch das Linxxnet erhielten, sind vielfältig, teils sehr widersprüchlich. Es ging um das Verhältnis zur Nato, zu Russland und um die Abstimmung zu Afghanistan kurz vor der Wahl. Wenig überraschend, fiel immer wieder der Name Wagenknecht – wobei die Ansichten auseinander gehen. Exemplarisch ist ein Schlagabtausch auf Twitter, wo Becker parallel gefragt hatte. »Wagenknecht raus!«, schrieb ein Nutzer; ein anderer: »Genau falsch!« In der Umfrage des Linxxnet gab es viele kritische Kommentare zu Wagenknecht. Generell, so Blunck, komme es nicht gut an, wenn führende Köpfe von Partei und Fraktion deren programmatische Positionen öffentlich, in Medien oder Büchern in Zweifel ziehen.
In manchen Fragen, das zeigen die zufälligen Befragungen, ist die echte oder potenzielle Anhängerschaft so uneins wie die Partei: Mitregieren ja oder nein? Mehr Realpolitik? Oder mehr Radikalität? Ist das Problem, dass es zu wenig Charismatiker an der Spitze gibt, oder eher, dass diese mit zu vielen Stimmen reden? Ein Kernproblem, sagt Becker, sei der seit Jahren anhaltende Streit und die damit verbundene inhaltliche Unklarheit. »Die Leute wissen nicht, wofür wir stehen«, sagt er: »Sie wissen nicht oder nicht mehr, warum sie gerade uns wählen sollen.«
Manche haben es dann doch getan, allerdings oft genug nur aus taktischen Erwägungen. Von 54 Befragten, die beim Linxxnet angaben, im Leipziger Süden gewählt zu haben, votierte die Hälfte mit der Zweitstimme für die Linke, aber zwei Drittel per Erststimme für Direktkandidat Sören Pellmann. »Sie wussten wohl, dass es darauf ankommt«, sagt Blunck. Ob sie die Partei auch künftig und aus Überzeugung wählen, ist offen.
Diese muss dringend Schlussfolgerungen ziehen, meint Maximilian Becker. Er hat, gemeinsam mit dem Bautzener Kreisparteichef Silvio Lang, kurz vor einem Landesparteitag im November Thesen für die Linke in Sachsen formuliert, die zur Bundestagswahl bei nur 9,3 Prozent landete. Um bei der Landtagswahl 2024 Chancen auf ein zweistelliges Ergebnis zu haben, müsse sie sich »auf das Grundsätzliche konzentrieren«, sagt Lang, der auch dem Landesvorstand angehört.
Die Landespartei solle zehn »Kernthemen« definieren, dazu in der Zeit bis zur Wahl konzentrierte Kampagnen durchführen und darauf ihren Wahlkampf 2024 aufbauen. Bis Ende 2022 müsse zudem geklärt sein, wer diese Themen »mit Namen und Gesicht« vertritt; unklare Verhältnisse in Partei »und insbesondere Fraktion« müssten überwunden werden.
Das Papier regt an, Gewerkschaften, Vertreter der Zivilgesellschaft und progressiver Initiativen zu einer »Debatte über einen Politikwechsel« einzuladen und dazu 2023 eine Konferenz zu veranstalten. Vorgeschlagen werden Runde Tische über eine »neue Erzählung Ost«. Schließlich solle in Form von Pilotprojekten versucht werden, in je einer großen und mittelgroßen Stadt sowie einer ländlichen Region »in bestehende Kämpfe« einzugreifen. Ganz generell, sagt das Papier, müsse die Partei »andere Fragen stellen und neue Antworten suchen«.
Dazu könnten auch unorthodoxen Befragungen wie jetzt in Sachsen beitragen. Weitere könnten folgen, sagt Blunck und regt danach eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung an: Wie geht die Partei mit diametralen Positionen um, wie sind sie zu überwinden und in ein »Zukunftsprojekt« zu überführen? Nötig sei, sagt er, »eine Strategie, damit es uns auch in vier Jahren noch gibt.«
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