Der Mann ohne Eigenschaften

Nur ein Jahr nach der US-Wahl sieht sogar Joe Biden die Ziele seiner Präsidentschaft in Gefahr

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Jahr nach seinem Sieg gegen Donald Trump ist Zeit für eine Inventur zu Joe Bidens Arbeit, seinen Zielen und Erstergebnissen. Aber auch für einen Blick auf seine eigene Performance ist die Person an der Spitze in einem Präsidialsystem wie den USA doch per Definition mächtiger als zum Beispiel ein deutscher Kanzler. Das Zwischenzeugnis für den ältesten Präsidenten, den die USA je hatten (in zwei Wochen wird Biden 79), fällt dürftig aus. Nicht weil es an großen Zielen fehlte. Er wollte die Trump-Jahre von Hass und Spaltung überwinden. Er sah das Land, innen wie außen, im Niedergang und will es, innen wie außen, sanieren. Vor allem will er Arbeitern und Mittelschicht nach langen Einbußen bessere Lebensbedingungen und damit verbunden der bürgerlichen Demokratie neuen Halt geben.

Das Problem: Bidens wirtschafts- und sozialpolitische Kernprojekte werden seit Monaten im Gesetzgebungsprozess verzwergt. Seine Pläne zur Bewältigung der Coronakrise, die bisher 770 000 Menschenleben kostete, zur Verringerung der sozialen Ungleichheit oder zum Kampf gegen Rassismus oder Wahlungerechtigkeit werden nicht bloß von allgegenwärtigen Konzerninteressen und Republikanern, sondern auch von uneinigen Demokraten gefährdet. Joe Biden, der sich unter dem Druck von Amerikas inneren wie äußeren Krisen - ohne Linker zu werden - nach links bewegt hat, handelt eifrig, aber ohne Durchsetzungskraft.

Was Biden versprach

Sowohl Joe Bidens Wahlprogramm als auch seine Erklärungen nach dem Sieg gegen Donald Trump und bei Amtseinführung als 46. Präsident enthielten zahlreiche Versprechen. Damit gab er wichtige Ziele vor, um die USA »zu einem gerechteren Land umzubauen«:

• Der Staat: Rehabilitierung der Rolle des Staates in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Anders als bei Trump erhalten Achtung von Demokratie und Menschenrechten und der Kampf gegen Rassismus zentralen Stellenwert. Nach Jahren des Hasses komme es auf »Heilung« an unter dem Motto: »America United«.

• Coronavirus: 100 Millionen Impfungen in den ersten 100 Amtstagen sollten die Epidemie »für die meisten Bürger bis Ende Mai« beenden. Ein Trugschluss: Die Pandemie ist neu entflammt, mit bis zu 2000 Toten pro Tag und – bis Donnerstag – insgesamt 770 000 Todesfälle landesweit.

• Klima: Rückkehr der USA zum Pariser Klimaabkommen. Treibhausgasemissionen sinken bis 2050 netto auf null. Massive staatliche Investitionen, um fossile Brennstoffe schrittweise durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Klima gerechte Modernisierung der Infrastruktur zur Schaffung von zehn Millionen gut entlohnter Jobs.

• Bildung: Studium für Kinder aus Familien mit Jahreseinkommen von unter 125 000 Dollar und Ausbildung an Community Colleges sollen gebührenfrei sein.

• Gesundheit: Barack Obamas Reform wird erweitert, um Millionen abzusichern, die nie krankenversichert waren oder wegen Corona ihre Arbeit und damit die Versicherung verloren. Das Eintrittsalter für Medicare, die bestehende staatliche Gesundheitsfürsorge für Senioren, sinkt von 65 auf 60 Jahre.

• Steuern: Großverdiener werden stärker besteuert, Geringverdiener und Mittelschicht nicht mehr als »vor Biden«. Anhebung des Einkommensteuerspitzensatzes von 37 auf 39,6 Prozent. Zusatzbetrag leistet, wer mehr als 400 000 Dollar im Jahr verdient. Einkommen über eine Million Dollar werden nach dem individuellen Steuersatz besteuert und nicht wie unter Trump mit maximal 20 Prozent. Anstieg der Unternehmensteuer von 21 auf 28 Prozent. ros

Direkt vor Abflug zu seiner jüngsten Europareise setzte er am vergangenen Donnerstag in einem Mix aus Risikofreude und beginnender Panik sein Amtsgewicht ein, um die Partei hinter sich zu bringen und seine größten Projekte, das Sozialpaket BBB (»Build Back Better«) und das Infrastrukturgesetz BIF (»Bipartisan Infrastructure Deal«) zu verabschieden. Er fuhr die knapp vier Kilometer vom Weißen Haus zum Kapitol, nahm an einer Fraktionssitzung der Demokraten teil und erwartete Einigung bis zu seinem Abflug zum G20-Gipfel nach Rom. Vergebens.

Diese Mischung aus Verweigerung und Versagen vergrößert die Gefahr, dass die Demokraten schon kommendes Wahljahr ihre Mehrheit im Kongress wieder verlieren und Bidens Präsidentschaft schon dann als gescheitert gilt. Die Sorge ist diese Woche mit der wichtigsten amerikanischen Wahlentscheidung 2021 nochmals gewachsen: Beim Rückflug von Glasgow erfuhr der Präsident von der Niederlage der Demokraten bei der Gouverneurswahl in Virginia. Das ist der Bundesstaat in der Nachbarschaft der Bundeshauptstadt, in dem Biden vor Jahresfrist noch zehn Prozent vor Trump lag, der als Bank der Demokraten gilt und in dem Biden zuletzt als Wahlkämpfer persönlich auftrat. Zweimal. Auch das vergebens. Der republikanische Sieg demütigt den Präsidenten.

Ein Grund für Bidens Probleme ist die weiter verschärfte politische Polarisierung. Anders als noch bei Amtsantritt stimmt kaum ein Republikaner mehr Vorlagen der Demokraten zu. Umso wichtiger deshalb, dass sie eigene Mehrheiten organisieren - sie siegen entweder allein oder gar nicht. Allerdings: Die Demokraten sind eine »Broad Church«, eine breite Kirche mit einer schwer vereinbaren Gemeinde. Der Politikwissenschaftler und USA-Kenner Michael Werz beschrieb es so: »Gäbe es die Demokraten in Deutschland, würden sie das gesamte Spektrum von der Linkspartei über die Grünen bis hin zum rheinischen Katholizismus abdecken.« Die Flügelkämpfe drohen nun, das eigene Regierungsprogramm und den eigenen Präsidenten irreparabel zu beschädigen.

Seit Wochen hakt es an Folgendem: Zum einen will Biden das Gesetz unter dem Kürzel BIF durchbringen, das mit Ausgaben von 1,2 Billionen Dollar Straßen, Brücken und Gleise, Flughäfen, Häfen und Bahnhöfe, Strom- und Wassernetze modernisieren soll. Vom Senat gebilligt, hier sogar mit Stimmen der Republikaner, muss es nun durchs Abgeordnetenhaus, wo die Demokraten knapp in der Mehrheit sind. Stimmten sie geschlossen für das BIF, könnte Biden es in Kraft setzen. Das tun sie aber nicht, und das hat mit dem zweiten Plan zu tun, dem Sozialpaket BBB.

Binnen zehn Jahren, so dessen Erstentwurf, sollten 3,5 Billionen Dollar investiert werden, um ein soziales Netz nach europäisch-sozialdemokratischem Vorbild auch für Amerika zu knüpfen - das ist freilich keine Revolution, sondern eine zivilisatorische Nachholaktion. BBB sah unter anderem die Einrichtung von Kindergeld sowie staatlich finanzierte Kindergartenplätze für Drei- und Vierjährige vor. Wie segensreich dies wäre, zeigt sich daran, dass in den USA die Ganztagsbetreuung eines Vorschulkindes im Schnitt mehr als tausend Dollar im Monat kostet. Der Entwurf wollte zudem die astronomischen Medikamentenkosten verringern, bezahlte Elternzeit einführen und Senioren bessere Krankenversicherungen gewähren, all dies finanziert aus höheren Unternehmenssteuern und Steuern auf hohe Einkommen und Aktienbesitz.

Praktisch brauchen die Demokraten weder für das BIF noch für das BBB die Republikaner. Sie haben eine knappe Mehrheit im »House«, eine hauchdünne im Senat und könnten sowohl den Sozial- als auch den Infrastrukturplan verabschieden. Stattdessen hängt das BIF im Repräsentantenhaus und das BBB im Senat fest - weil sich Progressive und Zentristen bei den Demokraten uneins sind.

Die Linken wollen ein glaubwürdiges Sozialprogramm und daher im Repräsentantenhaus erst dann für den Infrastruktur-BIF stimmen, wenn dieses Votum im Senat zugleich mit Einigung auf ein akzeptables Sozialpaket BBB einhergeht. Sie fürchten, dass andernfalls der Infrastrukturplan passiert, das als Tiger gestartete Sozialpaket aber als Bettvorleger endet. Im Senat jedoch blockieren ganze zwei konservative Senatoren den Sozialplan und machen ihn immer zahnloser. Ihnen waren nicht nur die anfänglichen 3,5 Billionen zu viel, sie wollen auch keine Steuern erhöhen. Stand heute schrumpfte das Finanzvolumen des Sozialplans bereits auf zuletzt 1,75 Billionen Dollar. Weiterer Aderlass ist nicht ausgeschlossen. Viele Wahlversprechen sind gestrichen, darunter der von Biden geplante bezahlte Mutterschutz. Bliebe es dabei, wäre dies für viele eine Riesenenttäuschung. Und es beließe die USA in dem zweifelhaften Klub, eines von nur acht Ländern weltweit ohne bezahlten Mutterschutz zu sein.

Auch Bidens sinkende Umfragewerte signalisieren Enttäuschung. Die wiederum speist sich aus mehreren Quellen. Eine betrifft wachsende Zweifel an Bidens Führungsstärke und Amtsfitness. Daran erinnern das Tauziehen um seine Großprojekte und andere Beispiele. So wie bislang etwa auffallend wenige Sachbücher über den - offenbar wenig inspirierenden - Präsidenten erschienen sind, gibt es bis jetzt keine einzige Rede von ihm, die sich eingeprägt hätte. Er hält keine Pressekonferenzen ab, die den Namen verdienen. Er liest ab, fürchtet Fragen. Das mag in autokratischen Ländern angehen, in den USA ist das für den Präsidenten ein irgendwann unverzeihlicher Makel. Politikwissenschaftler Christian Hacke sagte neulich, seit Woodrow Wilson, von 1913 bis 1921 Präsident und nach einem Schlaganfall zuletzt faktisch amtsunfähig, »haben wir keinen US-Präsidenten gehabt, bei dem wir uns fragen müssen, ob er überhaupt voll im Amt ist. Wir wissen auch nicht, wer in dieser Regierung die Fäden zieht. Ich bezweifle, dass er es allein ist.«

Tatsächlich wirkt Joe Biden, dieser anständige Mann mit der brüchigen Stimme und aus einfachen Verhältnissen stammend, ein wenig wie Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Er weiß, dass er die USA vor weiterem Niedergang bewahren müsste. Doch ob er sich sicher ist, dass er dafür die persönliche wie politische Statur besitzt, wissen wir nicht. Donald Trump, Gott bewahre, scharrt auch deshalb immer häufiger und immer lauter mit den Hufen.

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