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Wenn Zwickau Messi kaufen würde
Wie der kleine norwegische Handballverein Kolstad IL zum besten der Welt werden will
Es braucht viel Fantasie. Mehr noch, es braucht eine Vision, um zu sehen, was Jostein Sivertsen sieht. Am vergangenen Sonntag spielte Kolstad IL gegen Haslum HK. In der Kolstad Arena waren 1800 Zuschauer dabei, und die Gäste siegten locker und leicht mit 30:20. In Norwegens erster Handballliga stehen die Kolstader auf dem neunten Tabellenplatz - irgendwo im Nirgendwo in einer europäischen Liga, deren Niveau zweitklassig ist.
Von dem Klub aus Trondheim nahmen bis vor kurzem außerhalb der Stadt nur wenige Notiz - bis Sivertsen von seiner Vision erzählte und sogleich begann, sie umzusetzen. »Wenn es nach Plan läuft, wollen wir in der Champions League dabei sein, um den Einzug ins Final Four kämpfen und manchmal die Champions League gewinnen«, hofft der Manager von Kolstad IL. Bis 2024 will der Verein die Nummer eins in Norwegen sein, fortan im Konzert der Großen mitspielen und baldmöglichst gar die erste Geige im Orchester sein. Das ist in etwa so, als würde der Chef des FSV Zwickau erklären, in ein paar Jahren mit Manchester City und Real Madrid um den Sieg in der Fußball-Champions-League streiten zu wollen. Aber Kolstad ist nicht Zwickau, und die Welt des Handballs zugegebenermaßen kleiner als die des Fußballs. Damit ist auch der Aufstieg einfacher.
Sivertsen ist seit mehr als zehn Jahren Manager bei den Trondheimern und bislang nicht dadurch aufgefallen, fernab der Realität zu leben. »Ich hatte schon immer das Ziel, etwas Großes mit dem Klub zu erreichen«, erzählt er. In den vergangenen Monaten überzeugte er namhafte Unternehmen in Norwegen von seinem Plan. Die größte Supermarktkette fungiert inzwischen als Hauptsponsor und stellt offensichtlich derart viele finanzielle Mittel zur Verfügung, dass Sivertsen seine Vision in die Realität umsetzen kann.
Startpunkt war der vergangene Sonntag, der Tag der deutlichen 20:30-Niederlage gegen Haslum. Die 60 weniger guten Handballminuten werden bald in Vergessenheit geraten, die Pressekonferenz danach hingegen nicht. Der Klub und sein künftiges Aushängeschild machten dabei öffentlich, was zuvor wochenlang gemutmaßt worden war. Bei Kolstads Angriff auf die Spitze wird Sander Sagosen das Zugpferd sein. Der Rückraumspieler, derzeit noch beim THW Kiel in der deutschen Bundesliga unter Vertrag, gilt als bester Handballer der Welt - und wechselt 2023 zurück in seine norwegische Heimat, nach Kolstad. Übertragen auf den Fußball käme das in etwa einer Ankündigung gleich, dass Lionel Messi nach Zwickau wechselt.
Der Vergleich hinkt jedoch, denn Sagosen hat dicke Bande nach Trondheim und zu Kolstad. Der 26-Jährige ist in Trondheim geboren und spielte ganz zu Beginn seiner Karriere eine Saison lang beim damaligen Zweitligisten. Zudem ist Vater Erlend im Trainerteam des Klubs tätig. »Für mich war das ein Traum, seit ich Trondheim verlassen habe«, sagte Sagosen nun. Er habe sich nicht gegen Kiel, sondern für seine Familie entschieden. Eine solche Chance sei für den Handball in Norwegen, aber auch für ihn persönlich einmalig. Mit ihm hat das Projekt des künftigen Superteams seine schillerndste Figur. Die einzige Kolstader Verpflichtung, die Eindruck macht, ist er aber nicht.
Mit Sagosen stellten Sivertsen und der Verein am vergangenen Sonntag fünf weitere hochkarätige Neuzugänge vor. Im kommenden Sommer wechseln die norwegischen und isländischen Nationalspieler Torbjörn Bergerud (Gudme, früher Flensburg), Magnus Gullerud (SC Magdeburg), Janus Smarason (Göppingen) sowie Sigvaldi Gudjonsson (Kielce) von starken Teams aus Dänemark, Deutschland und Polen nach Kolstad. Einen Sommer später kommt neben Sagosen auch Magnus Röd aus Flensburg hinzu. Sechs neue Topspieler sind also bereits fix dabei - und damit die Ambitionen klar untermauert.
Das Grundgerüst steht und verspricht, international gehobenen Ansprüchen zu genügen. In den kommenden Monaten will Sivertsen den Kader mit weiteren starken Akteuren bestücken, um möglichst schnell im ersten Schritt zur Nummer eins in Norwegen aufzusteigen. In der Eliteserie muss dazu zunächst Elverum Handball vom Thron gestoßen werden. Der Klub ist seit zehn Jahren ununterbrochen nationaler Meister und aktuell erneut souveräner Tabellenführer. Seit dem vergangenen Sonntag gibt es bei den Handballfachleuten aber wenig Zweifel, dass künftig der beste Klub aus Norwegen Kolstad und nicht mehr Elverum heißen wird.
In Deutschland wird das norwegische Projekt mit Interesse und auch etwas Sorge verfolgt. In den vergangenen Jahren nutzten die Bundesligaklubs die Liga in Norwegen, um sich mit gut ausgebildeten und talentierten Spielern zu versorgen. In den nächsten zwei Jahren verlassen die Bundesliga nun (mindestens) vier Spieler in Richtung Kolstad, die in ihren Klubs tragende Rollen eingenommen haben. Das Gros der norwegischen Nationalmannschaft steht in Deutschland unter Vertrag. Auch das könnte sich bald ändern.
Sorge macht zudem, dass das Großprojekt in Norwegen das zweite im skandinavischen Raum ist, das in direkter Konkurrenz zur Bundesliga steht. In Aalborg ist die Entwicklung sogar schon weiter fortgeschritten: Der dänische Klub stand im Sommer bereits im Finale der Champions League. Im kommenden Sommer hat sich der Verein aus dem Norden Dänemarks mit Mikkel Hansen einen internationalen Superstar geangelt. Wie in Kolstad fußt das Projekt nicht auf Mäzenatentum, sondern vielen Sponsoren.
Wie die norwegische galt auch die erste dänische Liga in der Vergangenheit als (Selbst-)Bedienungsladen für die insgesamt finanziell viel besser aufgestellten Klubs der Bundesliga. Jahr für Jahr wechselten die auffälligsten Akteure beider Spielklassen nach Deutschland. Dieser Mechanismus beginnt sich aber gerade umzukehren. Am Tag, als klar wurde, dass Sagosen den THW Kiel verlassen wird, verlor der Rekordmeister bei Aufsteiger TuS N-Lübbecke völlig überraschend mit 25:29. Uwe Schwenker, viele Jahre lang Manager in Kiel, verfolgt diese Entwicklung, beschwichtigt jedoch beim Blick auf die Folgen. »Es kommen wieder andere Spieler«, sagte der heutige Präsident der Handball-Bundesliga jüngst den »Kieler Nachrichten«. Die besten aus Norwegen werden es künftig wohl nicht mehr sein, denn in Kolstad ist Jostein Sivertsen gerade dabei, eine große Vision in die Realität zu übertragen.
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