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Wo der Hund begraben liegt
Gegen die bürgerliche Kritik: Walter Boehlichs intellektuelle Biografie in 211 ausgewählten Briefen
Zwischen der Postkarte, die Walter Boehlich 1944 seiner Mutter nach Theresienstadt schreiben musste, und dem von Altersresignation gefärbten Brief an den Germanisten Peter Wapnewski, der den voluminösen Band beschließt, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert.
Zum 100. Geburtstag des Publizisten, Kritikers, Lektors und Übersetzers haben Christoph Kapp und Wolfgang Schopf eine Briefauswahl vorgelegt, die eine intellektuelle Biografie nachvollziehbar macht. Und die nicht zuletzt deshalb bemerkenswert ist, weil sie auch als ein Weg in die Politisierung gelesen werden muss - die freilich mit allen Konsequenzen erst in der zweiten Lebenshälfte sich ereignete.
Die Universität seiner Heimatstadt Breslau konnte Boehlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft nur als Gasthörer besuchen; in dem Romanisten Ernst Robert Curtius fand er nach dem Krieg in Bonn einen von ihm beinahe vergötterten Mentor.
In den 50er Jahren folgten Auslandsaufenthalte in Aarhus und Madrid, gleichzeitig trat Boehlich zunehmend als Kritiker in Erscheinung. Als Peter Suhrkamp ihn 1957 als Lektor verpflichtete, schien die ihm gemäße Stellung gefunden, die er auch nach Suhrkamps Tod behielt, bis der Laden dem neuen Verleger Siegfried Unseld 1968 im Zuge des sogenannten Lektorenaufstands um die Ohren flog. Boehlich war es mit der Forderung nach mehr Mitbestimmung ernst, und er gründete 1969 gemeinsam mit anderen Suhrkamp-Rebellen in Frankfurt den Verlag der Autoren.
»Frankfurt ist mir tief widerwärtig, aber ich kann bei Suhrkamp mehr tun als anderswo«, skizzierte Boehlich seine Situation einmal lapidar. Als Lektor korrespondierte er unter anderem mit Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Koeppen und Peter Weiss. Was die Adressaten der 211 ausgewählten Briefe dem so peniblen wie streitbaren Lektor entgegenhielten, ist manchmal durch die Fußnoten nachvollziehbar, manchmal auch nicht. Die Herausgeber Kapp und Schopf beschränken ihre Kommentare meist auf das Nötigste und verzichten auf die Aufklärung von »Sachverhalten, die sich auf das Privatleben« beziehen.
Dennoch erfahren wir von ihnen, wo Boehlichs Lieblingshund Whatty Whatnot begraben liegt, und sie hatten offenbar auch Spaß daran, in den Familienalben zu stöbern und den Band mit Schnappschüssen bunt zu bebildern, die Boehlich als Jugendlichen oder mit bekannten Persönlichkeiten aus dem Kulturleben zeigen - diesem Mann des Wortes vielleicht nicht ganz adäquat. Neben der Verlagskorrespondenz stehen Briefe an Familienmitglieder und Leserbriefe an die FAZ, mit denen er so regelmäßig wie vergeblich protestierte, wenn wieder einmal die NS-Vergangenheit einer hochgestellten Persönlichkeit beschönigt oder übergangen wurde: »Man kann die Tränen kaum unterdrücken, wenn man liest, wie schwer Hans Globke unter den Angriffen gelitten hat, die seiner Tätigkeit im Reichsinnenministerium galten.«
1964 publizierte Walter Boehlich in der »Zeit« einen Artikel, in dem er mit den deutschen Universitäten und ihrem Unwillen, ihre Rolle im Nationalsozialismus aufzuarbeiten, hart ins Gericht ging. Hatte er im Westen lebende bekennende Kommunisten zunächst noch mit Spott bedacht, rückte der Mittvierziger Boehlich in den Jahren um 1968 immer weiter nach links. »Es ist ein Glück, daß es die DDR gibt«, versicherte er 1966 der Kunsthistorikerin Monika Plessner.
Und an Herbert Marcuse schrieb er 1967: »Ich finde nämlich, es stinkt hier so vor lauter Nazis, daß man nicht atmen kann.«In einem aufschlussreichen Brief an den FAZ-Wirtschaftsmann Hans Herbert Götz, der gegen Marcuse polemisiert hatte, legte er ein Jahr später bündig dar: »1948 lautete die Frage, ob wir dieselbe Gesellschaft wiederherstellen wollten, die uns zwei Weltkriege beschert hat, von der Hitlerei zu schweigen. Wollten wir sie wiederherstellen, dann war allerdings die freie Marktwirtschaft das beste Mittel. Niemand gedeiht unter ihr so gut wie die NPD (…) Hätten wir 1948 die Frage gestellt, welche Besitzverhältnisse welche politischen Entwicklungen begünstigen, dann hätten wir kaum den unkontrollierten Privatkapitalismus in seine alten Rechte gesetzt.«
Die Folge dieser Haltung war, dass Boehlichs Interventionen bald nicht mehr oder nur noch selten in den Rennomier-Feuilletons erschienen und ihm stattdessen ab 1979 eine Kolumne in der »Titanic« eingerichtet wurde. »Schriebe ich lieber, schriebe ich vielleicht öfter«, lesen wir 1981 in einem Brief an Martin Walser, »könnte schreiben etwas verändern, hätte es wirkungen, dann wohl auch.« Eine radikale Selbstkritik hatte Boehlich bereits 1968 in seinem »Autodafé« formuliert, das der Zeitschrift »Kursbuch« damals als »Kursbogen« beilag und nun auch dem Briefband als Nachdruck beigegeben ist: »Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende.«
Noch Jahre später musste er sich mit dem Missverständnis herumärgern, er habe die Kritik in Bausch und Bogen verabschieden wollen, wo es ihm doch darum zu tun war, mit der »bürgerlichen« zu brechen. Für den Bildungsbürger Boehlich war das bitter. An den »Zeit«-Feuilletonisten Ulrich Greiner schrieb er 1983: »die bürgerliche bildung war ein fetisch (und ein herrschaftsinstrument), aber wenn man sie gar nicht erst erworben hat, ist man wohl angeschmiert, wenn man lesen lernen will.«
Walter Boehlich: »Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen.« Briefe 1944 bis 2000. Hg. Von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf. Schöffling & Co., 544 S., geb., 50 €.
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