Die »M-Waffe« an Polens Ostgrenze

Hinter der Flüchtlingstragödie der polnisch-belarussischen Grenze steckt die Gefahr eines realen Krieges, meint René Heilig

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Dicht bewölkt, Temperaturen zwischen neun und dreizehn Grad, Regen. Das prognostiziert die Wetterstation in Brest. Die Stadt ist nur wenige Kilometer von der belarussisch-polnischen Grenze entfernt. Dort leiden Tausende Flüchtlinge. Sie hüllen sich in Planen, versammeln sich um wärmende Feuer. Wütend die einen, andere bereits ohne jede Kraft. Alle hoffen, dass sie wie Menschen behandelt werden, weil verantwortliche Politiker irgendwo tief in der Seele Nächstenliebe entdecken, wenn vor ihren Regierungsgebäuden Tannen geschmückt und Karussells aufgestellt werden, wenn der Duft von Glühwein und gebrannter Mandeln aufsteigt …

Zu Wochenbeginn hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko telefoniert. Parallel dazu griffen Frankreichs und Russlands Präsidenten, Emmanuel Macron und Wladimir Putin, zum Telefon. Man hört, es sei darum gegangen, nicht ob, sondern wie eine Eskalation der Lage an der belarussisch-polnischen Grenze verhindert werden könne. Diese protokollarische Auskunft klingt nicht nach einer grundsätzlichen Linderung menschlichen Leids an der kontinentalen Außengrenze von EU und Nato.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Man wirft Lukaschenko zurecht vor, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. Vermutet wird, dass er sich damit rächen will, weil die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft in Belarus allerlei Sanktionen gegen Minsk erlassen hat.

Lesen Sie auch: Krieg gegen Schutzsuchende - Karl Kopp fordert, das Asylrecht, das Recht auf Leben und Menschenwürde zu verteidigen

Mag sein, dass der geistig grob gewebte Autokrat Lukaschenko auch Rache im Sinn hat. Doch die Flüchtlingsaktion hat ein weitaus größeres Potenzial. In polnischen Sicherheitskreisen heißt es, dass die versuchten Grenzstürmungen – durch »nur scheinbar zufällig zusammengesetzten Gruppierungen von Bürgern aus Irak, Syriens, Äthiopien, Irans und Ägypten« – die Form »einer koordinierten Militäraktion« angenommen hätten. Unter anderem das Warsaw Enterprise Institute, ein von der Wirtschaft ausgehaltener Thinktank, benutzt den Begriff »Migrationsaggression«. Andere sprechen von der »M-Waffe«, die ein neues Mittel der von Minsk betriebenen und von Moskau unterstützten »hybride Kriegsführung« sei. Ihr Einsatz könne schnell zu einer permanenten regionalen Destabilisierung führen. Was dann folgt, so wird in Warschau nicht ohne Hinweis auf die ohnehin tiefen Zerwürfnisse zwischen Polen und Brüssel gewarnt, könnte den Zusammenhalt der »Wertegemeinschaft« EU weiter schwächen.

Wie skeptisch man militärische Aufklärungsergebnisse besonders in Spannungssituationen auch betrachten sollte – es ist eine Tatsache, dass Minsk seine leicht bewaffneten Grenzschützer längst durch Spezialeinheiten des Innenministeriums und reguläre Truppen verstärkte. Gleichfalls unübersehbar ist, dass das Nato-Mitglied Polen an der EU-Ostgrenze massiv aufgerüstet hat. Neben Grenzschutz und Polizei sind bereits jetzt mechanisierte Einheiten von vier polnischen Divisionen im Einsatz. Man hat angeblich Belege dafür, dass einige militante Migrantengruppen »Instrukteuren« belarussischer Dienste folgen. Was, wenn der als Nadelstich gedachte »Migrationskonflikt« ausufert, wenn womöglich Schüsse fallen oder Barrieren mit Sprengstoff verrückt werden?! Bittet Polen dann – wie Frankreich es 2015 vormachte – die anderen EU-Staaten um militärischen Beistand im Kampf gegen Terrorismus? Oder fühlt sich die Nato gar zur Verteidigung des Bündnisgebietes aufgefordert?

Lesen Sie auch: »Vor sechs Jahren wäre das nicht denkbar gewesen« - ein Interview mit der Aktivistin Liza Pflaum

Jetzt kommt es darauf an, die Flüchtlinge eilig aus der Falle zu befreien. Doch wehrt man so auch einer weiteren Militarisierung der Grenze? Ist es möglich, dass der derzeit unmenschlich mit Menschen ausgetragene Konflikt zur Methode wird? Hat er gar das Potenzial zum »schleichenden Krieg« – ähnlich dem, der in der Ukraine zwischen von Moskau unterstützten Separatisten und der Kiewer Armee ausgetragen wird?

Gerade in Deutschland sollte man sich daran erinnern können, wie hochsensibel Grenzen sind. Die Berliner Mauer fiel erst nach 28 Jahren. Experten aus Warschau schauen sich gerade an, ob sich das gigantische Menschen-Abwehr-Monster, das Spanien um seine afrikanischen Exklaven betreibt, auch in polnischen Wäldern aufstellen lässt. Eine Lösung? Vielleicht. Aber keine gute!

René Heilig ist Journalist mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!