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  • Geflüchtete an der EU-Ostgrenze

Mit Waffengewalt gegen Asylanträge

Der Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl über die Rechtsbrüche an der Ostgrenze der Europäischen Union

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

An der EU-Ostgrenze harren seit Wochen Tausende Migrant*innen bei eisiger Kälte aus. Die Menschen werden von polnischen Sicherheitskräften davon abgehalten, die Grenze zu passieren. Immer wieder wird berichtet, dass Menschen bei Übertritten gewaltsam zurück auf die belarussische Seite gebracht werden. Ist das erlaubt?

Nein. Jeder Geflüchtete, der an eine europäische Grenze kommt und dort einen Antrag auf Asyl stellen möchte, muss Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren haben, in dem individuell seine oder ihre Schutzgründe überprüft werden. Gerade erleben wir aber, dass an den Außengrenzen der EU - und in Polen sehr verstärkt - stattdessen systematisch völker- und europarechtswidrige Pushbacks durchgeführt werden.

Interview

Maximilian Pichl (geb. 1987) lehrt Politische Theorie an der Universität Kassel. Das europäische Asylrecht gehört zu seinen Schwerpunkten. Er ist Teil der Forschungsgruppe »Beyond Summer 15« der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied im Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Ulrike Wagener sprach mit ihm über die Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen, die Diskursverschiebung nach 2015 und die Instrumentalisierung von Geflüchteten.

Polen hat ein Gesetz erlassen, dass es dem Grenzschutz erlaubt, Flüchtende ohne vorheriges Asylverfahren abzuschieben.

Polen ist Teil der Europäischen Union und damit gebunden an das europäische Recht. Nationale Gesetze können nicht angewendet werden, wenn sie gegen EU-Recht verstoßen.

Was könnte die Europäische Union gegen diese Rechtsverstöße tun?

Die EU betreibt bereits den Versuch, an allen europäischen Außengrenzen bestimmte rechtsstaatliche Verhältnisse wiederherzustellen. Die EU kritisiert zwar auch Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen. Aber der Staatenbund ist selbst ein Teil des Problems. Hätten wir legale Zugangswege in die Europäische Union, müssten die Menschen nicht über Fluglinien nach Minsk an die polnische Grenze fliehen.

Im Grenzgebiet ist die Pressefreiheit quasi ausgesetzt. Unabhängige Beobachter*innen und Hilfsorganisationen kommen nicht in die Region.

Wenn man repressiv gegen Geflüchtete vorgeht, hat das immer auch Auswirkungen auf die innere Verfasstheit von Bürger- und Menschenrechten. Hier werden die Rechte von europäischen Journalist*innen angegriffen, um eine Blackbox zu kreieren, wo keine Öffentlichkeit mehr stattfindet. Das zeigt ganz deutlich: Der Abbau von Rechtsstaatlichkeit an den Außengrenzen geht einher mit dem Abbau von Rechtsstaatlichkeit im Inneren der Europäischen Union.

Außenminister Heiko Maas (SPD) behauptete in einem Interview sinngemäß, es könne sich bei diesen Menschen nicht um Asylberechtigte handeln, weil sie mit Flugtickets nach Belarus gekommen seien.

Das ist eine vollkommen absurde Aussage! Eine Flucht kostet extrem viele Ressourcen. Nur weil man über solche Mittel verfügt, heißt es nicht, dass man nicht politisch, religiös oder ethnisch verfolgt ist. Jeder dieser Menschen vor Ort aus dem Irak, aus Syrien oder aus dem Libanon wird mögliche Schutzgründe vorbringen können, egal wie er oder sie an diese Grenze gekommen ist. Und die müssen überprüft werden, von Behörden und eben anschließend auch per Rechtsschutz vor Gerichten. Da kann nicht Heiko Maas, als Teil der Exekutive, kann nicht vorwegnehmend behaupten, dass hier keine Fluchtgründe vorliegen. Das weiß man erst nach einem individuellen Verfahren.

Am Dienstag wurden Menschen von polnischen Sicherheitskräften mit Wasserwerfern und Tränengas beschossen. Begründet wurde das mit einem »Angriff« auf das Land. Greifen Flüchtlinge die EU an?

Wir haben gerade eine ganz militaristische Sprache in dieser Debatte, bei der Menschen mit Waffen gleichgesetzt werden. Das dreht die wahren Verhältnisse um. Denn gerade werden mit europäischen Waffen Menschen davon abgehalten, einen Schutzanspruch in Europa zu reklamieren.

Wer ist der Aggressor in diesem ganzen Kräfteverhältnis?

Es gibt einen geopolitischen und politischen Konflikt zwischen der EU und Belarus. Gleichzeitig wird aber so getan, als ob die Geflüchteten eine manövrierfähige Masse wären. Ich bin überzeugt, dass viele Geflüchtete Zugang zu Informationen haben und erahnen können, was sie dort erwartet. Sie versuchen trotzdem, die letzten Strohhalme der Hoffnung zu ergreifen, um in die EU zu gelangen, weil alle anderen Grenzen zu sind. Da gibt es auch persönliche Motive, die überhaupt nicht in eins zu setzen sind mit irgendeiner Strategie, die in Minsk ausgearbeitet wird.

Aktuell werden die europäischen Außengrenzen militärisch abgeschottet und Flüchtlinge als Aggressoren dargestellt. Sind wir gesamtgesellschaftlich bei der AfD-Erzählung von 2015 angekommen?

Wir erleben eine stetige Normalisierung von Gewalt und Entrechtung an den europäischen Außengrenzen. Man macht Zugeständnisse an rechte Akteure, weil man befürchtet, die Aufnahmebereitschaft in Europa würde schwinden. Aber es ist ein Irrglaube, dass man durch diese Abschottung irgendwie zur Stabilität in Europa beitragen könnte. Stattdessen entstehen immer wieder absolut unkontrollierte Situationen an den Grenzen, wo Menschen hin- und hergeschoben werden und die EU massiv unter Druck gerät von autoritären Akteuren wie Lukaschenko, wie Erdoğan, oder eben auch den Milizkräften in Libyen. Auf diese Weise gibt die EU ein großes Stück politischer und rechtsstaatlicher Handlungsfähigkeit aus der Hand.

Nach 2015 wurde ein sogenannter Flüchtlingsdeal mit Recep Tayyip Erdoğan abgeschlossen. Gibt es hier Parallelen?

Mit Lukaschenko will man erst mal nicht so verhandeln wie mit dem türkischen Präsidenten, weil man da noch andere diplomatische Probleme zu lösen hat. Aber es gibt bereits Vorschläge, einen Deal mit der Ukraine zu schließen und die Menschen von der polnischen Grenze dorthin zu bringen. Interessanterweise hat der ukrainische Botschafter diesen Plan als zynisches Angebot bezeichnet und ihm ein klares Nein erteilt. Damit gibt es jetzt ein Land, das sich gegen eine Vereinnahmung in der Auslagerung von Migrationskontrolle zur Wehr setzt. Langsam ist das Repertoire der EU erschöpft, um dieses Problem wegzuschieben. Und dann hat die EU wirklich ein Problem.

Im dunklen Versteckwald. Zofia nierodzińska hat Aktivist*innen an der polnischen Grenze zu Belarus begleitet, die Geflüchtete vor Ort unterstützen

Was müsste die EU jetzt tun?

Sie müsste sich an die selbstgesetzten Menschen- und Völkerrechte halten. Man hat das Grundrecht auf Asyl in den europäischen Verträgen, man hat ein europäisches Asylsystem. Nun muss man das zur Anwendung kommen lassen und den Menschen Zugang zu einem fairen Verfahren geben.
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