»Widerworte geben ist wichtig«

Rosa García Torrabadella verkauft Zeitungen in Barcelona. Sie weißt, was in den Schlagzeilen steht und was die Menschen in ihrem Viertel bewegt

  • Interview: Julia Macher
  • Lesedauer: 8 Min.

Wer das Viertel nicht kennt, würde die »Llibreria Dumbo« vermutlich übersehen. Der Eckladen versteckt sich zwischen einer gut besuchten Fleischerei und einer Druckerei. Im Schaufenster: ein Durcheinander von Grußkarten, Kugelschreibern im aufgeklappten Etui und Krimskrams für Kinder. Die Türglocke geht beständig. Das Geschäft ist Anlaufstelle für jede*n im Viertel - und das liegt zuvorderst an der Betreiberin: Rosa García Torrabadella.

Durch Ihre Hände gehen täglich Dutzende Zeitungen. Über welche Nachricht haben Sie sich heute besonders geärgert?

Interview

Rosa Maria García Torrabadella, 69 Jahre alt, führt seit mehr als 20 Jahren einen Zeitungsladen in der Innenstadt von Barcelona. Daneben ist sie treibende Kraft mehrerer Nachbarschaftsinitiativen. Ein Gespräch über Sportzeitungen, die Stimmung im Post-Corona-Barcelona - und die Notwendigkeit von Widerworten.

Heute bin ich noch gar nicht zum Lesen gekommen. Aber als ich heute früh das Fernsehen angemacht habe, lief ein Beitrag zum Vulkanausbruch in La Palma, bei dem verkündet wurde, dass die Menschen, die dort ihr Haus verloren haben, finanzielle Unterstützung bekommen.

Das ist ja eine gute Nachricht.

Nein, denn es ging nur um eine einmalige Zahlung von 2000 oder 3000 Euro pro Familie. Das ist nichts, wenn alles Hab und Gut unter der Lava begraben ist! Und dann stellte sich auch noch heraus, dass es sich um Spenden von Bürgerinnen und Bürgern handelte, nicht um Regierungshilfe. Aber das Ganze wurde so verkauft, als ob es sich um eine offizielle Hilfe handelte und jetzt alles prima sei. Da habe ich mich richtig aufgeregt!

Über die Journalist*innen?

Ja, da muss man doch klar von Anfang an sagen, dass es sich um eine private Spendenaktion handelt, und nicht so offiziös tun. Und natürlich ärgere ich mich auch über die Regierung, deren Hilfsprogramme viel zu schleppend anlaufen. Und natürlich über die Banken, die den Landwirt*innen auf der Insel immer noch die Raten für die zerstörten Plantagen oder Häuser abknöpfen.

Sie stehen jeden Tag ab sieben Uhr hinterm Tresen. Wie viel Zeit bleibt Ihnen denn täglich für die Zeitungslektüre?

Ich versuche schon, einen groben Überblick zu haben, aber meist schaue ich dann doch nur in die Zeitungen, die ich mag.

Auf einem niedrigen Tisch neben dem Eingang liegen die letzten Exemplare des Nachmittags. Die spanienweit erscheinenden Zeitungen scheinen nach politischer Richtlinie sortiert. Von der rechten »La Razón« und der monarchistischen »ABC« sind noch jeweils acht Exemplare übrig, von der linksliberalen »El País« nur drei. Getrennt davon liegen die Stapel mit den in Barcelona erscheinenden »La Vanguardia« und »El Periódico« sowie der rein katalanischen »Ara« und »El Punt Avui«.

Ist die Sortierung nach politischer Richtlinie Absicht?

(lacht)

Nein, das mache ich aus alter Gewohnheit! Früher kamen die Zeitungen aus Madrid mit dem Zug und waren so vorsortiert. Ich habe das einfach beibehalten. Auch damit die Kunden instinktiv wissen, wohin sie greifen müssen.

Lässt sich an den verkauften Zeitungen ablesen, wie das Viertel tickt?

Eine grobe Idee bekommt man schon: Hier leben viele Menschen mit Katalanisch als Muttersprache oder katalanischem Hintergrund. Am besten verkaufen sich deswegen »La Vanguardia« und »El Periódico«. Beide werden hier in Barcelona herausgegeben, in einer katalanischen und einer spanischen Ausgabe. Auch viele Katalanen greifen zur spanischen: Viele Menschen aus meiner Generation hatten ja nie Katalanisch in der Schule und finden es bequemer, auf Spanisch zu lesen. Ich persönlich denke, dass man sich für den Erhalt der Sprache ein bisschen anstrengen sollte. Aber das ist meine Privatmeinung.

Wie viel verdienen Sie pro Zeitung?

Pro Exemplar bekomme ich 25 Cent. Aber weil die meisten jungen Leute Nachrichten - wenn überhaupt - auf dem Smartphone oder Tablet lesen, gehen meine Umsätze seit Jahren zurück. Das meiste Geld verdiene ich inzwischen mit anderen Produkten: den Heften, Stiften, Sammelkarten oder Büchern. Im Monat komme ich auf etwa 1500 bis 2000 Euro. Aber Tagespresse im Angebot zu haben, ist trotzdem wichtig. Sie lockt die Menschen ins Geschäft. Die »Llibreria Dumbo« war schon immer halb Schreibwarenladen, halb Zeitungskiosk.

Seit wann sind Sie hier die Chefin?

Ich habe das Geschäft im November 1998 übernommen. Damals habe ich in der Verwaltung einer Baufirma gearbeitet, allein unter Männern. Ich war für sie das Mädchen für alles. Wenn jemand einen Kaffee wollte, eine Fotokopie brauchte: Wen schickte man los? Rosa natürlich. Weil ich eine Frau war, wurde mir prinzipiell weniger zugetraut, und das hat mir sehr gestunken. Als mir meine Schwester erzählt hat, dass eine neue Pächterin für dieses Geschäft gesucht wurde, habe ich kurzerhand meinen Job gekündigt und bin eingestiegen. Auch wenn das nichts mit meinem ursprünglichen Beruf zu tun hat: Eigentlich bin ich gelernte Sozialarbeiterin.

Etwas Sozialarbeiterin oder Psychologin sind Sie beim täglichen Plausch mit den Kund*innen doch bestimmt auch, oder?

Ich bin hier im Viertel geboren. Natürlich kenne ich die Mehrzahl meiner Kund*innen persönlich. Oft merke ich, dass jemand kommt und einfach reden will. Dann höre ich zu, sage aber selbst wenig, so wie das auch die Taxifahrer machen. Ich bin ja auch so sichtbar genug im Viertel. Neben meiner Arbeit bin ich Präsidentin des Nachbarschaftsvereins und engagiere mich außerdem noch im Einzelhandelsverband des Viertels.

Spanien scheint das Schlimmste der Pandemie überstanden zu haben, die Infektionszahlen bleiben seit Wochen niedrig. Spielt Corona noch eine Rolle?

Die älteren Kunden sind immer noch sehr ängstlich und gehen wie damals, während der ersten Wellen, nur nocheinmal täglich vor die Tür. Dabei sind doch fast alle geimpft.

An der Eingangstür hängt ein Zettel mit Bitten um Lebensmittelspenden. Auch ein Pandemie-Relikt?

Die Idee entstand zu Beginn der Pandemie. Als die spanische Regierung im Frühjahr 2020 die Ausgangssperre verhängte, haben wir im ganzen Viertel Flugblätter verteilt und eine Telefonliste erstellt - mit Menschen, die allein waren, kein Geld hatten oder Hilfe bei Anträgen brauchten. Auf das Kurzarbeitergeld mussten viele ja ewig warten. Daraus ist dann so eine Art Lebensmittelbank geworden, bei der sich noch heute 35 Familien einmal die Woche Reis, Öl, Nudeln, Hülsenfrüchte abholen. Dafür haben wir einen Preis von der Stadtverwaltung bekommen. Von den 1400 Euro Preisgeld werden wir einen Kühlschrank kaufen, dann können wir auch besser frisches Obst und Gemüse lagern.

Hilfe für das Lebensnotwendige: Das müsste doch eigentlich die Stadtverwaltung leisten.

Aber die Verwaltung erreicht viele Menschen nicht. Zu uns kommt zum Beispiel eine ältere Frau, deren Tochter drogenabhängig ist und sich nicht um ihr kleines Kind kümmern kann. Also sorgt die Großmutter für das Kind. Zu öffentlichen Sozialeinrichtungen würde diese Frau nie gehen, aus Angst, dass man ihr vielleicht das Sorgerecht fürs Enkelkind wegnimmt. Daher kommt sie zu uns. Initiativen wie unsere können einfach schneller und vor allem unbürokratischer reagieren. Es reicht, wenn sich ein paar Leute am Tresen zum Kaffee treffen und entscheiden, etwas zu tun.

Woher nehmen Sie die Energie?

Ich war schon immer Aktivistin. Meinem Mann wurde das irgendwann zu viel. Da hat er sich dann scheiden lassen. Ach ja, eine Frauengruppe habe ich auch gegründet. Denn das Leben hat mich immer mehr zur Feministin werden lassen. (lacht)

Inwiefern?

Durch die Alltagserfahrungen, die ich gemacht habe. Als ich ein kleines Mädchen war, lauerten mir auf dem Schulweg Exhibitionisten auf. Später im Berufsleben erwartete man von mir, dass ich alles kann und mache und immer nett und unterwürfig bleibe. Irgendwann habe ich verstanden, dass das alles in die gleiche Kategorie von Diskriminierung, von Gewalt gehört. Und seitdem mache ich den Mund auf, wenn mir etwas nicht passt.

Neben Tageszeitungen haben Sie auch jede Menge Klatsch- und Frauenzeitschriften im Angebot. Da gehen Ihnen als Feministin doch manche Schlagzeilen oder Aufmacher bestimmt über die Hutschnur.

Natürlich! Im Angebot haben muss ich sie allerdings trotzdem, manche Leute interessieren sich dafür, und ich muss ja verkaufen. Aber neulich habe ich einen ganzen Stapel der Sportzeitung »Sport« einfach wieder zurückgeschickt.

Weshalb?

»Sport« berichtet fast ausschließlich über den FC Barcelona. Aber als im September die Frauenmannschaft des FC Barcelona nicht nur die Liga, sondern auch den Pokal und die Champions League gewonnen hat, gab es kein einziges Foto, keinen einzigen Artikel dazu. Die einzige Frau in der Ausgabe war das Model, das für den Mund-Nasen-Schutz des FC Barcelona warb. Das fand ich so unmöglich, dass ich mich beim Verlag beschwert habe.

Wie hat der reagiert?

Der hat sich natürlich rausgeredet und erzählt, sie hätten doch neulich eine Sonderausgabe nur mit Frauen gemacht. Aber das entschuldigt doch nicht dafür, dass man die sportlichen Erfolge der Frauen systematisch ignoriert!

Und was haben die Kunden gesagt?

Ein paar haben mich beglückwünscht, andere haben wohl gedacht: »Rosa hat einen Knall.« Aber das macht mir nichts aus. Ich war zufrieden mit mir. Auch wenn es nichts an den Verhältnissen ändert: Widerworte geben ist einfach wichtig.

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