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Lebensgefährlicher Frust im Erzgebirge
Unterwegs im sächsischen »Südstaat«, wo die Krankenhäuser voll sind und die Impfgegner trotzdem in der Mehrheit
Die »Parkwarte« ist ein beliebtes Ausflugslokal im erzgebirgischen Aue: 1904 vom örtlichen »Verschönerungsverein« hoch über der Stadt errichtet, mit trutzigem Turm und einer grandiosen Aussicht über das Tal. Auf der Speisekarte stehen Sauerbraten, Spätzle und jeden Donnerstag 24 Schnitzelvariationen. Vor der Tür informiert ein Aufsteller darüber, dass hier derzeit die 2G-Regel gilt: Zutritt nur für Geimpfte und Genesene. Am vorigen Sonntag wurde das Kürzel auf andere Weise umgesetzt, sagt Matthias Wild, der Wirt: »Da hatten wir auch 2G - zwei Gäste.«
Wild kann die ausbleibenden Besucher nicht fragen, warum sie nicht kommen und das Lokal, das sonst an Wochenenden lange im Voraus ausgebucht ist, meiden. Vielleicht, sagt er, fühlen sich auch Menschen, die eigentlich als geschützt gelten, unsicher und bleiben lieber zu Hause. Vermutlich aber sind auch zu viele in der Region weder geimpft noch genesen. Also werden Firmenweihnachtsfeiern und Familiengeburtstage, die im Advent sonst den Saal füllen, reihenweise abgesagt. »Wenn man einen oder zwei Leute ausschließen müsste, lässt man es lieber gänzlich sein«, sagt der Wirt: »Man will die Truppe ja nicht spalten.«
Vielleicht sind es auch mehr als ein oder zwei, die geltenden Regeln zufolge draußen bleiben müssten. Die Impfquote liegt im Erzgebirge bei gut 44 Prozent, das ist die niedrigste in der Republik. Vom »Land der Ungeimpften« schrieb die örtliche »Freie Presse«. Gleichzeitig stecken sich so viele Menschen wie sonst kaum irgendwo in Deutschland mit dem Virus an. Die Sieben-Tage-Inzidenz je 100 000 Einwohner lag zeitweise bei 2243. Im Erzgebirge leben rund 330 000 Menschen - macht mehr als 7000 Infektionen in einer Woche.
Je mehr Menschen sich infizieren, desto mehr erkranken vor allem ohne Impfschutz auch schwer. Die Folgen sieht Diana Reiser jeden Tag. Sie arbeitet in einer Klinik in der Region und heißt eigentlich anders, möchte ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen. »Wir sind zu über 100 Prozent ausgelastet«, sagt sie. Schwer erkrankte Corona-Patienten füllen die Intensivstation, aber auch Betten, die für Infarktpatienten gedacht sind. »Notfälle«, sagt sie, »dürfen in dieser Lage eigentlich nicht noch kommen.« An einem Tag, an dem gerade ein Wintereinbruch viele Straßen matschig und glatt werden lässt, wirkt das wie ein frommer Wunsch.
Wie es im Klinikum weitergeht, darüber macht sich Reiser keine Illusionen. Die eigentliche »Welle ins Krankenhaus« stehe erst noch bevor; sie folgt dem Anstieg der Inzidenzen mit Verzögerung. Allerdings sind die Intensivstationen schon jetzt voll. Laut einer aktuellen Prognose werden Mitte Dezember in Sachsen 200 Betten mehr gebraucht als vorhanden sind; erste Patienten wurden in andere Bundesländer verlegt. In Reisers Klinik arbeiten Ärzte, Schwestern und Pfleger am und weit jenseits des Limits. Viele haben die Belastung schon in den ersten drei Wellen nicht mehr ertragen, sind krank geworden oder haben den Job gewechselt. Die geblieben sind, müssen sich wieder auf schockierende Bilder einstellen. Das Sterben mit Corona sei »ein schlimmer Tod«, sagt Reiser. Es ist auch ein schlimmer Abschied für Angehörige, die nicht die Hand der Sterbenden halten dürfen, und für Pfleger, die erleben, dass Leichname aus Gründen des Infektionsschutzes in Plastiksäcke verpackt werden. »Als würde man sie entsorgen«, sagt Reiser. Es ist die harte Realität der Pandemie.
Jenseits der Krankenhäuser scheint bei vielen im Erzgebirge eine andere Wahrnehmung zu herrschen. Am ersten Adventswochenende trafen sich in Orten wie Zwönitz und Freiberg Menschen auf Marktplätzen zum »Anlichteln«: gemütliches Beisammensein mit Buden und Glühwein, obwohl Sachsens aktuelle Corona-Notverordnung Weihnachtsmärkte und öffentlichen Ausschank von Alkohol untersagt. Vorsichtsmaßnahmen wie die AHA-Regel werden in der Region gern ignoriert. Im Erzgebirge gebe es »anscheinend keinen Mund-Nasen-Schutz«, empörte sich ein leitender Arzt des Helios-Klinikums Aue kürzlich in einem offenen Brief an den Landrat. Die Impfquote nannte er »erbärmlich«.
Die Frage, warum ausgerechnet hier die Impfskepsis so verbreitet ist, führt an diesem Tag an verschiedene Orte im Erzgebirge. Diana Reiser berichtet von Patienten, die jetzt auf die Intensivstation kommen, teils selbst dort die Existenz und Gefährlichkeit von Corona bezweifeln und aggressiv auf ärztliche Anweisungen reagieren. »Ich überlege, woran es gefehlt hat und wo man sie hätte abholen können«, sagt sie.
Reiser hält es für denkbar, dass es an nüchterner, leicht verständlicher Information und Aufklärung über die Impfstoffe gefehlt hat, als sie frisch verfügbar waren. Es hätte »so etwas wie eine ›Sendung mit der Maus‹« gebraucht, verbreitet über Kanäle und Plattformen, die von vielen Menschen genutzt werden in einer Region, in der längst nicht mehr alle eine Tageszeitung lesen und viele dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk misstrauen. Über den Impfstoff kursierten »die abenteuerlichsten Ansichten«, sagt sie, »und die Menschen im Erzgebirge haben ein Faible für Mythen«. Inzwischen, fügt sie hinzu, hätten sich viele Meinungen zum Impfen verfestigt. Es habe die Hoffnung gegeben, dass Corona dank einer hohen Impfquote von über 90 Prozent wie eine Grippewelle zu bewältigen sei. Die Hoffnung, sagt die junge Frau aus dem Krankenhaus, »habe ich vorerst nicht mehr«.
Immerhin: Etliche wollen sich jetzt impfen lassen, auch im Erzgebirge - und machen dann Erfahrungen, wie sie der Wirt der »Parkwarte« schildert. »Überall heißt es: Impfen, impfen, impfen«, sagt er. Seine Tochter habe der Aufforderung folgen wollen - und fünf Stunden in einer Schlange gestanden, »draußen in der Kälte«. Sachsens Impfzentren wurden im Herbst geschlossen. Hausärzte und mobile Impfteams halten mit der jetzigen Nachfrage nicht Schritt. Bei ihm selbst wäre eine Auffrischungsimpfung fällig, sagt Wild. Einen Termin gab es für ihn nicht vor Ende Januar. »So wird das nichts«, sagt der Gastronom. Er beklagt ein generelles »Hü und Hott« in Politik und öffentlicher Debatte, in der ständig die Vor- und Nachteile verschiedener Impfstoffe abgewogen, einzelne Vakzine geschmäht, andere rationiert würden. Versprechungen seien gegeben und widerrufen, ein erneuter Lockdown sei ausgeschlossen worden, nun gelte er doch als unumgänglich, werde aber hinausgezögert. Die Weihnachtsmärkte in Sachsen galten bis wenige Stunden vor Eröffnung als durchführbar und wurden dann urplötzlich abgesagt. »Wenn ich mein Unternehmen so führen würde«, sagt Wild, »wäre ich längst pleite.«
Eine augenscheinlich oft planlose, widersprüchliche und unentschlossene Politik mag Verwirrung und Ablehnung stiften, sagt auch Andreas Bernhardt, ehrenamtlicher Kreisvorsitzender des DGB im Erzgebirge. Ein anderer Grund für Verweigerung sei aber, dass die Impfung überhaupt als Maßgabe der Politik und weniger als medizinische Notwendigkeit verstanden werde - und viele in der Region wenig Vertrauen in Staat und Politik hätten. Die Frage, warum das so ist, beantwortet der Gewerkschafter mit einer Gegenfrage: »Wie lange ist die Wende her? Und was hat sich geändert für die Leute hier?« Jenseits weniger Leuchttürme wie VW in Zwickau werde in vielen Betrieben kaum mehr als der Mindestlohn gezahlt. Viele gut Ausgebildete haben die Region verlassen; viele derer, die dageblieben sind, fühlen sich abgehängt.
Bernhardt hat 2005 in Zwönitz Montagsdemos gegen Hartz IV organisiert. Denselben Frust, der sich damals Bahn brach, erlebt er jetzt wieder bei montäglichen »Spaziergängen«, die in Zwönitz und vielen anderen sächsischen Städten stattfinden, aber von Rechtsextremen um die Gruppierung Freie Sachsen organisiert werden und beängstigenden Zulauf finden: In Freiberg kamen diese Woche fast 1000 Menschen. Die Aufforderung zum Impfen, beobachtet der DGB-Mann, werde vielfach als »Gängelei« empfunden; die Spritze sei zum Symbol geworden, ihre Ablehnung gelte als Ausdruck von Rebellion.
Manche, sagt Diana Reiser, fühlten sich von den nachdrücklichen Appellen zum Impfen an die DDR erinnert, mit der sie abgeschlossen hätten: »Die kultivieren so ein 1989er-Gefühl.« Gastwirt Wild erlebt das, wenn er als Teil des Hygienekonzeptes Schilder aufstellt, die an das »Sie werden platziert!« aus DDR-Lokalen erinnern: »Da sagen mir die Leute: Das lassen wir nicht noch einmal mit uns machen.«
Die Wurzeln der Renitenz reichen freilich nicht nur 30 Jahre zurück, ist Wolfgang Wetzel überzeugt. Der Grünen-Politiker und Sozialarbeiter wuchs im Erzgebirge auf und weiß aus eigenem Erleben, welche Rolle dort Freikirchen und evangelikale Kreise spielen - ungeachtet der Tatsache, dass die Zahl ihrer Mitglieder begrenzt ist: »Das hat einen enormen kulturellen Einfluss über Generationen hinweg.« Wetzel vergleicht das Erzgebirge mit den Südstaaten der USA, einer Region, in der ein fundamentales Christentum floriert, antidemokratische Ansichten verbreitet sind und eine plurale Gesellschaft als bedrohlich empfunden wird. In diesen Milieus sei man, anders als in anthroposophischen Kreisen, nicht per se gegen das Impfen, sagt er: »Aber man ist gegen den Staat, und wenn staatliche Behörden die Impfung propagieren, lehnt man sie ab« - und scheut auch nicht den Schulterschluss mit Esoterikern sowie mit Rechtsextremen, denen ohnehin jedes Mittel recht ist, um das politische System zu destabilisieren.
Neu ist diese Entwicklung im Erzgebirge nicht. Wetzel fühlt sich an 2013 erinnert, an die »Lichtelläufe« in Schneeberg, die sich gegen eine Unterbringung von Flüchtlingen im Ort richteten und von einem NPD-Mann organisiert wurden, der auch jetzt wieder bei den Freien Sachsen mitmischt. Schon diese stießen auf viel Zulauf aus der »Mitte der Gesellschaft«. Alte Bekannte hätten ihm damals gesagt: Ihr drängt uns ja in die Arme der Rechten, weil ihr unsere Anliegen ignoriert. Das gleiche Argument hört er jetzt wieder - und beobachtet den Zulauf zu den Rechten mit Sorge: bei »Spaziergängen«, aber auch bei den Protesten vor Krankenhäusern der Region, die diese Woche von den Freien Sachsen veranstaltet wurden. Die richteten sich gegen eine Impfpflicht für medizinisches Personal und zogen angeblich auch Pflegekräfte an. Es sind viele kleine Aktionen, die aber in Summe eine »kritische Masse« erreichen und ihn sehr besorgen, räumt Wetzel ein: »Es ist eine Gemengelage, die eine Radikalisierung nicht undenkbar erscheinen lässt.« Die »New York Times« widmete dieser Tage den Impfverweigerern im Erzgebirge eine ganze Seite, schrieb vom »Covid-Kulturkrieg in Europa« und davon, wie der »Impfwiderstand« in manchen »Winkeln« Europas nationalistischen Kräften Auftrieb verleihe.
Dazu trägt auch bei, dass Bürgermeister und Landräte überaus defensiv agieren oder gar stille Zustimmung signalisieren und sich, wie diesen Montag, auch die Polizei auffällig zurückhält. »Hier herrscht vielerorts Anarchie«, sagt Wetzel, »mit lebens- und gesundheitsgefährdenden Folgen.« Die Frage lautet: Was hilft? Eine Impfpflicht? Die würde die Stimmung wohl weiter anheizen und zugleich an der Situation im Erzgebirge wenig ändern, glaubt Wetzel. »Wer«, fragt er lakonisch, »würde die denn durchsetzen?!«
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