- Brandenburg
- Prozess gegen mutmaßlichen KZ-Wachmann
SS-Uniform oder Arbeitskittel
Angeklagter Josef S. leugnet Wehrdienst und Tätigkeit als Wachmann im KZ Sachsenhausen
»Ich habe ganz erhebliche Schwierigkeiten, das zu glauben, was Sie hier erzählen«, sagt Richter Udo Lechtermann. Dem Angeklagten Josef S. wird vorgeworfen, Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen gewesen zu sein. Dabei soll der heute 101-Jährige Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen geleistet haben.
Einen Wachmann Josef S. hat es in dem KZ nachweislich gegeben, geboren am 16. November 1920 – so wie der Angeklagte. Auch alles andere passt. Doch der 101-Jährige behauptet, er habe in der Zeit von 1941 bis 1945 überhaupt keine deutsche Uniform getragen. Er sei zwar Sergeant der litauischen Armee gewesen. Aber nachdem sowjetische Truppen 1941 seine Heimat besetzt hatten, sei er entlassen und als sogenannter Volksdeutscher über die Grenze nach Ostpreußen gebracht worden.
Einen Josef S. hat es im Totenkopfsturmbann des Konzentrationslagers Sachsenhausen nachweislich gegeben.
Er hatte anfangs den niedrigen Dienstgrad eines SS-Schützen, später wurde er zum SS-Rottenführer befördert.
Eine Truppenstammrolle von Januar 1943 verzeichnet ihn unter der laufenden Nummer 116/41/9. Dabei steht 41 für 1941, das Jahr des Dienstantritts, und 9 für neunte Kompanie. Auch in der vierten Kompanie des Wachbataillons hat Josef S. gedient.
Es gab keinen anderen Josef S. unter den seinerzeit 1423 Angehörigen der Wachmannschaft des Konzentrationslagers.
Die meiste Zeit war Josef S. im Hauptlager Sachsenhausen eingesetzt, 1945 kurze Zeit im Außenlager Lieberose. af
In einem Umsiedlerlager hätten Herren in weißen Kitteln und hohen schwarzen Stiefeln vor ihm gestanden. Das könnte eine Musterung gewesen sein. Aber die mutmaßlichen Militärärzte sprachen Deutsch, und er habe seinerzeit kein Wort verstanden, weil er diese Sprache noch nicht beherrschte. Die Männer in den Kitteln schüttelten angeblich die Köpfe und schickten ihn in seine Baracke zurück. Er habe dann etwa ein Jahr bei einer Firma gearbeitet, die Ersatzteile für die Wehrmacht fertigte. Da wurden Metallteile gebohrt und in Holzkisten verpackt. Das sind Details, die Josef S. noch vor Augen stehen – wenn man der Erklärung Vertrauen schenkt, die sein Verteidiger am Donnerstag vor Gericht in Brandenburg/Havel für ihn vorträgt.
Später will S. in der Landwirtschaft tätig gewesen sein – zunächst auf einem Gut, das Zuckerrüben anbaute, schließlich bei Pasewalk bei einem Bauern, für den er Bäume rodete. Erst ziemlich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sei er an die Front geschickt worden, habe allerdings auch dort keine Uniform getragen, sondern einen Arbeitsanzug, habe einige Wochen in Kolberg Schützengräben ausgehoben. »Dann war ›Hände hoch!‹«, erzählt Josef S. selbst, der auch, nachdem er schon 80 Jahre in Deutschland lebt, nur gebrochen Deutsch spricht. »Dann war ›Hände hoch!‹« meint: Die sowjetischen Truppen hatten Kolberg erreicht.
Den größten Teil dieser Geschichte trägt Verteidiger Waterkamp vor. Josef S. ergänzt, verheddert sich dabei in den Zeitabschnitten und Orten, beteuert aber, sein Rechtsanwalt habe alles richtig erklärt.
Als Richter Lechtermann an dieser Stelle nicht mehr weiterkommt, hält er dem Angeklagten Auskünfte vor, die er von der Deutschen Rentenversicherung erhalten hat. 1985 ist Josef S. in den Ruhestand gegangen. Er hatte zuvor in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) in Gollwitz bei Brandenburg/Havel gearbeitet. Mitte der 80er gab er in seinem Rentenantrag an, 1941 bis 1943 oder 1945 »Wehr- und Kriegsdienst« geleistet zu haben und bis 1946 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein. Das Dokument hat sich erhalten. Richter Lechtermann liest vor und sagt zu den Jahreszahlen 1943 und 1945: »Ich glaube, das ist eine Fünf, kann auch eine Drei sein, aber ich glaube, es ist eine Fünf.« Das Dokument trägt die Unterschrift von Josef S., das bestreitet dieser nicht. Er rechtfertigt die Unstimmigkeiten so: Der Rentenantrag sei von den Frauen in einem Büro der LPG ausgefüllt und ihm lediglich zur Unterschrift unter die Nase gehalten worden. Selbst geschrieben habe er den Text nicht.
Auch das bezweifelt der Richter. »Ich bin kein Schriftsachverständiger«, sagt er. Aber wenn er sich einzelne Buchstaben anschaue: »Ich glaube, dass Sie das selbst ausgefüllt haben.« Übrigens ist auf dem Formular der staatlichen Sozialversicherung der DDR vermerkt, dass Josef S. vollständige und richtige Angaben machen müsse und falsche Angaben strafbar wären.
Verteidiger Waterkamp äußert am Rande des Prozesses den Eindruck, dass Erinnerungslücken seines Mandanten nicht vorgetäuscht, sondern echt sind. Dagegen meint Nebenklägeranwalt Thomas Walther, der Angeklagte habe sich eine »Scheinwelt« geschaffen. Bei einer solchen Lebenslüge sei es schwierig, alle Details stimmig zu schildern. Journalisten machen sich in der zum Gericht umfunktionierten Turnhalle an der Max-Josef-Metzger-Straße Notizen. Das dürfen sie. Unter den Zuschauern, denen das Mitschreiben nicht erlaubt ist, sitzt aber in der ersten Reihe auch eine Frau, die sich ebenfalls Notizen macht. Rechtsanwalt Walther macht Richter Lechtermann darauf aufmerksam. Es stellt sich heraus, dass es sich um die 70-jährige Stieftochter des Angeklagten handelt. Sie sagt, sie habe seit 2006 keinen Kontakt mehr zu Josef S. gehabt, der ihrer Familie einiges angetan habe: »Es war die Hölle.« Sie schreibe nur für sich mit. Sie sei »erschüttert« wegen der Vorwürfe. Ob sie wusste, was Josef S. nun wirklich im Zweiten Weltkrieg getan hat, ob er ihr etwas davon erzählt hat, das bleibt dann aber offen. Denn in den Zeugenstand geholt, stellt sich heraus, dass der Angeklagte mit ihrer Mutter nicht bloß liiert, sondern verheiratet war. Damit sind Josef S. und die Zeugin verschwägert, und sie muss belehrt werden, dass sie zwar die Wahrheit sagen müsste, aber auch die Aussage verweigern dürfe, um ihren Verwandten nicht zu belasten. Die Gelegenheit ergreift sie beim Schopf, und schon ist sie als Zeugin wieder entlassen, setzt sich auf ihren Platz und schreibt fortan nicht mehr mit.
Nach einem Bericht der »Bild«-Zeitung wusste das DDR-Ministerium für Staatssicherheit, dass Josef S. Wachmann im KZ Sachsenhausen gewesen sei. Das gehe aus Stasi-Unterlagen hervor, schreibt das Blatt – und stellt die Frage, ob er verschont wurde. Vom Geheimdienst überprüft wurden die Tochter (es ist nicht die 70-jährige Stieftochter) und ihr Umfeld, weil sie als Leistungssportlerin ein sogenannter Reisekader war und 1980 in Moskau Olympiagold im Rudern geholt habe. Tatsächlich ist es aber so, dass SS-Wachleute, denen keine konkreten Verbrechen nachgewiesen werden konnten, früher generell nicht vor Gericht gestellt wurden. Allein die Tatsache, Wachmann gewesen zu sein, reicht erst nach neuerer Rechtssprechung dafür aus, wegen Beihilfe zum Mord belangt zu werden.
Ein Lebenslauf jenes Josef S., der nachweislich im Wachbataillon des KZ Sachsenhausen diente, ist nicht überliefert. Es gibt einerseits Lücken, erläutert der Historiker Stefan Hördler als Sachverständiger. Andererseits seien solche Lebensläufe angefertigt worden, wenn ein SS-Mann heiraten wollte. Dann musste beispielsweise auch nachgewiesen werden, dass die Braut nicht etwa entfernt jüdischer Abstammung ist. Da der SS-Mann Josef S. vor der Befreiung vom Faschismus nicht heiratete, entfällt das. Der Prozess wird diesen Freitag fortgesetzt.
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