Werbung

Rettungsversuche in Afghanistan

Die Hilfsorganisation Mission Lifeline bemüht sich neben der Seenotrettung auch um verbliebene Ortskräfte am Hindukusch

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Bundesregierung hat zwar zugesagt, möglichst viele Menschen, für die Deutschland Verantwortung trägt, aus Afghanistan zu retten. Sie konnte dieses Versprechen aber bei vielen zurückgelassenen Ortskräften und deren Familien, bei Journalisten und Menschenrechtsaktivisten nicht einlösen. Mission Lifeline versucht, Gefährdete bei der Flucht aus Afghanistan zu unterstützen. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Hilfe auf ein neues Feld auszudehnen?

Wir waren in unseren Anfangszeiten ja schon im Rahmen des Dresden-Balkan-Konvois auf der Landroute unterwegs. Es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir schnell reagieren, wenn irgendwo Menschen in Not sind. Das können größere Hilfsorganisationen nicht so flexibel und genau wie kleinere. Denn wirksame Hilfe ist vor allem von Ehrenamtlichen abhängig. Das ist einer unserer Vorzüge.

Interview

Axel Steier hat die Hilfsorganisation Mission Lifeline im Mai 2016 mitgegründet. Die Initiative ist hervorgegangen aus dem Dresden-Balkan-Konvoi, der im Oktober 2015 Sachspenden für Flüchtende auf der Balkanroute sammelte.

Derzeit hat Mission Lifeline zwei Rettungsboote im Einsatz, um nach Schiffbrüchigen zu suchen. Außerdem versucht die Organisation, Menschen auf der Flucht aus Afghanistan zu unterstützen, die vom Taliban-Regime bedroht werden. Darüber sprach Michael Bartsch mit dem Gründer von Mission Lifeline.

Wer ist in Afghanistan Ihr Vermittler, wer bildet sozusagen den Brückenkopf?

Wir arbeiten von Deutschland aus mit den Schutzsuchenden und schauen, wo es einen Bedarf gibt. Meistens genügt es schon, in die Sozialen Medien zu schauen. Es melden sich Leute, die in Not sind.

Auf der Homepage von Mission Lifeline werden bewegende Schicksale geschildert, aber eben nur sehr wenige.

Gefährdete herauszuholen, glückte bislang tatsächlich nur bei einer Handvoll Familien. Aber wir sind auch bei anderen hoffnungsvoll, haben Aufnahmezusagen für viel mehr Leute, die bislang noch festsitzen. Mit ungefähr 60 Menschen habe ich zurzeit ständig zu tun.

Wir arbeiten mit afghanischen Helfern zusammen, die natürlich auch gefährdet sind. Die besorgen Pässe und fahren Richtung Grenze. Vieles regeln die Schutzsuchenden auch selber. Sie kennen sich besser aus, und es wäre sinnlos, als Weißer dort nur schädliche Aufmerksamkeit zu erregen. Familien mit Frauen und Kindern können sich besser durchschmuggeln als allein reisende Männer. Aber vor dem willkürlichen Herausgreifen, vor gezielten Hausdurchsuchungen bei »Kollaborateuren« oder vor Erpressungen kann niemand sicher sein. Es ist auch schwieriger geworden, ein pakistanisches Visum zu bekommen.

Vermutlich hängt der Erfolg solcher Ausschleusungen vom Geld ab. Aber Sie leben als Nichtregierungsorganisation selbst von Spenden!

Ja. Und allein die Flugtickets kosten bis zu 1000 Dollar pro Person. Darüber hinaus haben wir noch das Problem, dass die Leute am Verhungern sind. Sie haben nach dem Truppenabzug keinen Cent mehr gesehen, obschon manchen formal gar nicht gekündigt wurde. Fürs Essen habe ich einen privaten Fundraiser gefunden, um einer Familie wenigstens 200 Euro schicken zu können. Auch privat schieße ich in solchen Fällen zu. Mission Lifeline muss nach wie vor ausschließlich von Spenden leben. Ich kann mit null Cent starten, und Anwälte gehen in Vorleistung, aber dann muss ich versuchen, Geld zu sammeln.

Sie können sich also auf eine Spenderklientel verlassen?

Die Resonanz ist nur da, wenn es medial ein Thema ist. Und das ist die Lage in Afghanistan momentan nicht mehr. Außerdem gibt es halbseriöse »Marktbegleiter«, wo das Geld kaum bei den Bedürftigen und erst viel später bei Projekten ankommt.

Behindert die Covid-Pandemie auch Sie?

Die Ortskräfte sind rechtzeitig geimpft worden. Aber die Tests vor dem Abflug müssen wir bezahlen, das sind immerhin 80 Euro.

Kommen die großen Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe oder die Caritas für eine Zusammenarbeit infrage?

Im Land sind zwar noch deren Mitarbeiter verblieben, aber die sind selber auf der Flucht. Sie müssen sich verstecken, weil sie ja mit den Westlern kooperiert haben. Es ist eine Mär, dass die Taliban ruhig blieben. Die suchen ja die Leute und bringen sie um.

Es sind also Legenden, die Taliban hätten sich vom Saulus zum Paulus gewandelt und seien plötzlich regierungsfähig und kooperativ?

Das mag in Kabul den Anschein erwecken. Sie werden nicht vor den Augen europäischer Journalisten Gräueltaten verüben. Ich hatte mit Leuten zu tun, von denen der Cousin oder der Ehemann entführt wurde und nie wieder auftauchte. Sie werden abgeholt, meistens umgebracht und verscharrt, soweit wir es hören. Es gibt aber auch ganze Familien, die verschwinden, und das nach einem Blutbad. Das ist an der Tagesordnung, vor allem in den Provinzstädten.

Familien werden offenbar nicht nur durch Verhaftungen und Morde auseinandergerissen, sondern auch durch unterschiedliche und willkürliche Ausreisegenehmigungen.

Da muss man genauer hinschauen. Es gibt jetzt dieses Ortskräfteverfahren, das dazu führt, dass Menschen, die noch mit ihrer Familie in Afghanistan sind, fliehen können - theoretisch, wenn sie anerkannt werden. Zunächst muss der ehemalige Arbeitgeber, also in der Regel ein Ministerium, den Bedarf anmelden und sagen, ja, die Person hat für uns gearbeitet. Dann läuft das Verfahren über diverse Ministerien, das Bundesinnenministerium muss schließlich abnicken. Dann geht es wieder ans Außenministerium und zum Schluss an die Botschaft.

Axel Steier ist Mitgründer von Mission Lifeline
Axel Steier ist Mitgründer von Mission Lifeline

Aber es gibt doch keine deutsche Botschaft in Afghanistan mehr?

Nein, an die in Islamabad, also nach Pakistan. Neben diesen Fällen gibt es auch jene Helfer, die schon vor anderthalb Jahren gekommen waren, aber ihre Familien nicht mitbringen durften. Viele sind deshalb im Juli in Panik heimgeflogen und dürfen trotzdem ihre Familie nicht mitbringen. Wenn man also einmal Deutschland betreten hat und die Kernfamilie war nicht dabei, hat man Pech gehabt.

Also können Sie kaum auf Unterstützung der Bundesregierung bauen?

Wir können von den Ministerien nichts erwarten, solange die Leute noch in Afghanistan sind. Wenn sie nach Pakistan ausreisen oder flüchten konnten, sieht es relativ günstig aus. Der Erfolg hängt vom Engagement der Botschaft ab. Schlechter sieht es bei den deutschen Botschaften im Iran oder in Usbekistan aus, die sich taub stellen. Der einzige Weg für uns ist, den Schutzsuchenden irgendwie über die Grenze oder in ein Flugzeug zu helfen. Wenn sie in Islamabad eintreffen, kann man sich kümmern.

Das heißt, man muss erst einmal das Glück haben, dort anzukommen?

Jetzt kommen wir zu den Einschränkungen, die eingeführt worden sind. Während man noch zum Zeitpunkt der Bundeswehr-Evakuierungsmission mit dem einfachen Personalausweis ausreisen konnte, hat Pakistan dann schnell die Passpflicht eingeführt. Den Pass müssen die afghanischen Behörden ausstellen. Es besitzt aber in Afghanistan kaum jemand einen Pass, sondern nur die sogenannte Tazkira, einen elektronischen Ausweis, oder ein einfaches A4-Papier, wo ein Bild und Fingerabdrücke festgehalten sind. Die Restriktionen wurden immer mehr erweitert, damit möglichst wenige Leute nach Pakistan flüchten können. Die Bundesrepublik bemüht sich zwar angeblich, aber in Wirklichkeit riecht es eher nach einem abwehrenden Grenzregime. So hat man zum Beispiel am 5. November eingeführt, dass niemand, der illegal nach Pakistan gelangt ist, bei der deutschen Botschaft einen Termin bekommt.

Voraussetzung zumindest für Teilerfolge bei der Evakuierung wäre also, dass sich die beteiligten Ministerien zu ihren Ortskräften bekennen?

Alle selektieren, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit, das Verteidigungsministerium. Sie sind dabei sehr wählerisch, wenn zum Beispiel kein direktes Vertragsverhältnis bestand und ein Subunternehmen dazwischengeschaltet war. Dann erlischt dieser Ortskräfteanspruch. Wir haben aber viele Leute, die so etwas wie Leiharbeiter waren. Sie haben beispielsweise im Auftrag der Bundeswehr auf deren Gelände Produkte verkauft und werden jetzt wie Selbstständige behandelt.

Viele, die zumindest kooperiert haben, werden also im Stich gelassen. Ist das eine Kapitulation vor dem Chaos, das der überstürzte Abzug im August hinterlassen hat, oder ist das schlichtweg Verrat?

Die Behauptung ist zu bezweifeln, dass die Bundesregierung nicht mit einem solchen Desaster habe rechnen können. Den Ortskräften wurden schon vorher Steine in den Weg gelegt, etwa mit dem merkwürdigen Visa-Verfahren der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die hatte im Auftrag der Bundesrepublik für Ortskräfte bereits vor dem Abzug der Bundeswehr ein Verfahren zur Aufnahme von 2000 Ortskräften eingerichtet. Das war schon eine Verschleppungstaktik, diese Zuflucht an Externe auszulagern, zumal die IOM nicht effizient arbeitet. Man sieht auch an anderer Stelle, dass die Leute im Grunde an der Nase herumgeführt werden. Während der Evakuierungsmission der Bundeswehr wurden Ortskräfte per Telefon nach Kabul zum Flughafen bestellt. Sie sollten sich an bestimmten Toren einfinden.

Was falsche Hoffnungen geweckt hat?

Vor allem hielt es sie ab, über die Landgrenze nach Pakistan zu verschwinden. Die wurde nämlich inzwischen geschlossen.

Was hat es mit diesem Torcham auf sich, der als Ort der Hoffnung beschrieben wird?

Das ist die pakistanische Grenzstation. Vor Erreichen müsste man aber von Kabul aus 20 Taliban-Checkpoints überwinden, ohne als Kollaborateur erkannt zu werden. Und dann muss man es erst einmal über die Grenze schaffen. Dort ist manchmal so viel los, dass Menschen totgetrampelt werden.

Das deutsche Außenministerium behauptet, man arbeite mit Pakistan nach 70 Jahren diplomatischer Beziehungen an Projekten zum Grenzmanagement. Worum geht es dabei? Eher um Schließung als um Öffnung? Ich denke, dass man mit Geld viel lösen könnte.

Was ist von den medienwirksamen beiden Rückflügen in jüngster Zeit zu halten?

Es fliegen ja kommerzielle Maschinen von Kabul ab. Die Tickets nach Islamabad sind gerade billiger geworden und kosten nur noch 400 Dollar. Aber diese Chance hatten auch nur Passinhaber, also eine krasse Minderheit. Deshalb findet die Bundeswehr kaum Passagiere, die sie mitnehmen kann. Sie simulieren natürlich mit solchen Flügen, dass sie etwas tun würden.

Es gibt also noch funktionierende diplomatische Kanäle, so dass man bei gutem Willen mehr Menschen herausholen könnte?

Richtig! Wir können dagegen nur mit Pass und Visum ausfliegen.

Erwarten Sie von der neuen Ampelkoalition Verbesserungen in der Außen- und Flüchtlingspolitik?

Aufgefallen ist uns im Koalitionsvertrag die sogenannte Rückführungsoffensive, der »Deportationsturbo«, wie ich sage. Das Ortskräfteverfahren soll neu gestaltet werden. Es ist auch nicht mehr von »Kernfamilien« die Rede, sondern nur noch von engsten Familienangehörigen. Wer ist das? Für die Taliban gilt sowieso Sippenhaft. Und wann wird das umgesetzt? Es geht jetzt schließlich um jeden Tag.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.