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Keine Konsequenzen gezogen

Linke-Obfrau Saadet Sönmez über die anstehende Arbeit des Hanau-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Der hessische Hanau-Untersuchungsausschuss wird an diesem Freitag seine erste öffentliche Sitzung abhalten und drei Angehörige der Mordopfer des Anschlags vom 19. Februar 2020 anhören. Was wird genau passieren?

Die Cousine von Kaloyan Velkov sowie der Bruder und die Partnerin von Fatih Saraçoğlu werden am Freitag zu Wort kommen. Da wird es um die Geschehnisse und das Handeln der Behörden in der Tatnacht gehen, auch die Frage nach dem korrekten Ablauf der Obduktion der Mordopfer spielt eine Rolle. In den folgenden Sitzungen werden weitere Angehörige und Sachverständige angehört.

Interview
Saadet Sönmez ist Obfrau der Linksfraktion im Hessischen Landtag für den Untersuchungsausschuss zur rassistischen Mordserie von Hanau am 19. Februar 2020. Sebastian Bähr sprach mit ihr über offene Fragen der Opferangehörigen, Behördenversagen und die Rolle der Landesregierung.

Warum ist es wichtig, dass die Angehörigen am Anfang zu Wort kommen?

Zum einen war es das Anliegen der Angehörigen, als erste sprechen zu dürfen. Zu Recht gebührt ihnen diese Rolle: Dieser Ausschuss wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die vehementen und großen Bemühungen der Familienmitglieder gewesen wären. Sie haben in den vergangenen Monaten beinahe selber als Ermittler gearbeitet und dabei immer wieder neue Fakten ans Tageslicht gebracht. Zum anderen ist es aber auch wichtig, die konkreten Schilderungen der Angehörigen als Zeugen zu hören. Die Arbeit im Untersuchungsausschuss kann sich daran orientieren.

Wie sehen Sie die Aufgabe der Linkspartei in dem Ausschuss?

Nach dem, was wir bisher etwa aus den Medien wissen, kann man - vorsichtig formuliert - wohl schon sagen, dass es in der Tatnacht ein immenses Versagen der Sicherheitsbehörden gab. Da ist letztlich eine Person mordend durch Hanau gezogen und die Polizei hat es nicht hinbekommen, diesen Menschen zügig festzusetzen, obwohl sie wusste, wo er wohnte. Die Behörden führen dies bisher auf die Umstände, allgemeine Überforderung und menschliches Versagen zurück. Aus unserer Sicht kann jedoch nicht alles, was passiert ist, damit erklärt werden. Erst recht nicht, wenn man den Ausbildungsstand und die Ressourcen der hessischen Polizei betrachtet.

Haben alle Parteien ein Interesse an einer kritischen Aufarbeitung?

Man kann derzeit schon sehen, dass die Vertreter der Regierungskoalition eher bestrebt sind, die Erzählung zu stützen, wonach es vielleicht menschliches Versagen gab, aber kein Behördenversagen und keine fatalen Fehler. Als Herr Păun mal in einer Innenausschusssitzung davon erzählte, wie sein Sohn, das Anschlagsopfer Vili Viorel Păun, mehrmals in der Tatnacht den Notruf wählte und nicht durchkam, antwortete CDU-Landesinnenminister Peter Beuth, dass die Polizei hervorragende Arbeit geleistet hatte.

Was sind die wichtigsten offenen Fragen, die es zu klären gilt?

Es gibt viele Fragen, die wichtig sind. Warum war beispielsweise an einem der Tatorte, eine Bar im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, der Notausgang versperrt? Warum hat der Polizeinotruf in der Nacht nicht wie vorgesehen funktioniert? Warum hat es mehrere Stunden gedauert, bis das Haus des Täters von der Polizei betreten wurde? Wieso konnte sich dieser Rechtsextremist bewaffnen, obwohl er schon vorher mehrfach den Behörden aufgefallen war? Wie wurde von den Behörden mit den Opfern und Angehörigen umgegangen?

Es ist ja unumstritten, dass in der hessischen Polizei ein Problem mit Rassismus und rechtsradikalen Gruppen existiert. Gibt es von hier eine Verbindung zum Handeln der Beamten während des Anschlags und danach? Wir wissen mittlerweile, dass 13 von dem Skandal betroffene SEK-Beamte in der Tatnacht Dienst hatten.

Wird es Ihrer Einschätzung nach möglich sein, von den Behörden konkrete Aussagen zu erhalten? Im Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke gab es offenbar Fälle, wo die Regierungsparteien sich dafür einsetzten, dass Verfassungsschutzmitarbeiter keine öffentlichen Aussagen treffen mussten.

Wie die Regierungsparteien handeln werden und was sie an Öffentlichkeit zulassen, wird man sehen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um so viel Transparenz wie möglich herzustellen. Das bedeutet für uns, dass wirklich auch alle Sitzungen und alle Zeugenvernehmungen öffentlich abgehalten werden müssen. Die Menschen haben ein Recht darauf zu erfahren, was in diesen Ausschüssen passiert und was die Zeugen aussagen.

Was sind die Folgen des behördlichen Umgangs mit dem Anschlag?

Das Vertrauen in die hessischen Behörden und speziell in die hessische Polizei ist bei vielen Menschen noch mehr erschüttert worden - schon vorher war es bei einigen kaum vorhanden. Der Eindruck, dass die Polizei auf dem rechten Auge blind ist, hat sich erhärtet. Weitere Vorfälle mit Beamten in Hanau taten dafür ihr Übriges. Ende April etwa wollten zwei junge Erwachsene nach einer Bedrohung bei einer Polizeiwache Anzeige erstatten. Der diensthabende Polizist ließ sie jedoch nicht rein, sondern sagte zu dem Mann migrantischer Herkunft: »Verpiss dich jetzt, sonst komm ich raus und hau dir auf die Fresse!« Davon gibt es Tonaufnahmen.

Hat sich die Stimmung in Hanau verändert?

Grundsätzlich war es kurz nach dem Anschlag so, dass vielfach in emotionalen Reden betont wurde, dass die Anschlagsopfer keine Fremden waren. Auch der CDU-Landtagspräsident Boris Rhein sprach sinngemäß davon, dass die Toten alle aus unserer Mitte stammten. Ich muss jedoch sagen, dass das alles relativ schnell wieder abebbte und Behörden wie auch der politische Betrieb wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Konsequenzen wurden nicht wirklich gezogen. Knapp ein Jahr nach dem Anschlag schoben hessische Behörden einen 30-jährigen Mann in die Türkei ab, obwohl er hier aufgewachsen ist, kein Wort türkisch sprach und noch nie in der Türkei gelebt hatte. Er war auch einer dieser Menschen aus unserer Mitte.

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