Der freche Charme des Fragens

Zum 100. Geburtstag des Interviewers Georg Stefan Troller

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Fernsehjournalist, Drehbuchautor und Regisseur Georg Stefan Troller wird 100.
Der Fernsehjournalist, Drehbuchautor und Regisseur Georg Stefan Troller wird 100.

Im Begleitbuch zum »Pariser Journal«, jener legendären Fernsehsendung von 1962 bis 1971, in der Georg Stefan Troller der Bonner Republik die Hauptstadt Frankreichs (eine echte Metropole!) nahebrachte, lese ich, dass es wohl schon 2000 oder sogar 3000 Pariser Interviews von ihm gebe. Beachtlich als Lebensleistung - aber dann bemerke ich, das Buch stammt bereits aus dem Jahre 1966!

Troller hat von den 55 Jahren, die seitdem vergangen sind, keins ungenutzt gelassen. Allein 70-mal »Personenbeschreibung« bis 1993. Jedes Jahr ein Buch oder ein Film. In diesem Herbst ist sein jüngstes Buch - von seinem letzten redet er inzwischen nicht mehr - erschienen: »Meine ersten 100 Jahre. Neue Geschichten und Berichte« (Edition Memoria).

Doch bleiben wir bei den Anfängen, denn ohne sie versteht man Troller nicht, seinen Drang nachzufragen, sich nicht mit Stereotypen zu begnügen. Geboren wurde er 1921 in Wien als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers, der ein großer Bewunderer Bismarcks war, ein strenger Wahlpreuße im Geiste, was sein wienerisches Modepelzpublikum nicht unbedingt wissen musste. Der Zusammenbruch des K.-u.-k.-Imperiums nach dem Ersten Weltkrieg war eine Katastrophe für die Familie: Die Menschen hungerten, und der Vater handelte mit teuren Pelzen?

Als sich Österreich 1938 begeistert von Nazi-Deutschland vereinnahmen ließ, war er 17 Jahre alt und fassungslos über den Verrat gerade des »roten Wiens«. Da hatte er bereits begonnen, Buchbinder zu lernen. Weil die Familie kein Geld fürs Studium mehr hatte, mussten alle Kinder einen Beruf lernen - zum Glück, denn kurz darauf konnte er sich im New Yorker Exil als Buchbinder durchschlagen.

Nach Kriegseintritt der USA meldet er sich freiwillig für die US-Armee. Im Ausbildungscamp attackiert ihn ein Ausbilder wegen seiner deutschen Lektüre. Er sei wohl ein Freund Hitlers! Frech gibt Troller zurück: »Ja, natürlich!« Dann wundert er sich, dass alle seine Mitauszubildenden längst im Truppeneinsatz waren, nur er nicht. Schließlich fragt er bei seinen Vorgesetzten nach und bekommt zur Antwort, er sei doch ein Freund Hitlers. Mit Ironie, so erfährt er hier, ist das so eine Sache. Aber der bittere Ernst der Situation: Von den vor ihm an die Kriegsschauplätze nach Nordafrika und Italien gebrachten Kameraden überlebte fast keiner, weil sie auf die Realität dieses brutalen Krieges nicht vorbereitet waren. Er selbst sagt von sich, er sei wohl der einzige US-amerikanische Soldat gewesen, der in den Krieg gegen Nazi-Deutschland zog und im Tornister Nietzsches »Zarathustra« bei sich trug - denn die Sprache, und nur sie, sei für ihn Heimat.

Schließlich kommt Troller zu einer Einheit, die deutsche Gefangene verhört. Da beginnt er seine ersten Interviews zu führen und interessiert sich für mehr als bloße Truppenkonzentration und die Anzahl der Panzer. Nein, er will wissen, wie die oft Gleichalterigen zu überzeugten Nazis wurden. Was unterschied sie, was verband sie? Er lässt sich ihre Geschichten erzählen, nicht ahnend, dass dies sein lebenslanger Beruf werden würde.

Seit seiner Flucht aus Österreich hatte er sich immer wieder gefragt, warum so viele Menschen ein ungebrochenes Selbstverständnis an den Tag legten, während er sich selbst unablässig infrage stellte. Könnte es sein, dass sie ihre Unsicherheit und Zweifel hinter einer Fassade verbargen?

Immer wenn ihn jemand als Fragender nicht ernst nahm, konnte er seine angeborene Wienerische Höflichkeit vergessen und eine Frechheit an den Tag legen, die ihn heute selbst erstaunt. Etwa bei Juliette Gréco, von der er 1966 nicht sehr charmant schreibt: »Eigentlich hat sie immer versagt. Als Sängerin - ihre Stimme unzureichend, ohne Volumen, das Timbre zu monoton. Als ich sie 1949 zum ersten Mal hörte, im Existenzialistenlokal Rose Rouge, hatte sie ihre Glanzzeit schon hinter sich.« Ziemlich forsch von diesem jungen Mann, der nach Paris kommt, die überhebliche Kunstelite das Fürchten zu lehren.

Immer legt es Troller auf ein persönliches Duell an. Er erträgt es nicht, geringschätzig behandelt zu werden. Wie von der Gréco, die er - dennoch - interviewen will. Schnell bemerkt er, sie blickt durch ihn hindurch wie durch Glas, spult ihr Routineprogramm ab: der Existenzialismus und Jean-Paul Sartre, dessen Muse sie sei. Troller unterbricht: »Haben Sie überhaupt begriffen, worum es in seiner Philosophie geht?« Die derart verdächtigte Berühmtheit erstarrt, die gewünschte Wirkung stellt sich ein: »Zum ersten Mal beugt sie sich vor, mustert mich.«

So schafft er es, sich aus der Unsichtbarkeit herauszuinterviewen. Aber nicht bei allen. Als 1958 General Charles de Gaulle sich selbst an die Spitze des Präsidialsystems der Fünften Republik stellt, ist es nur einer, der ihm in den Weg tritt: Troller, unangemeldet mit seinem Mikrofon, das er dem neuen mächtigen Mann an der Spitze Frankreichs unter die Nase hält. Und der habe ihn mit königlicher Herablassung in das Nichts zurückgewiesen, aus dem er gekommen sei: »Rück doch etwas weg von mir, mein Freund.« Doch Troller wäre nicht Troller, wenn er diesen Satz des Präsidenten nicht in seinem Fernsehbericht benutzen würde: Der authentische Moment, der in keinem Protokoll vorgesehen ist und der doch mehr sagt als stundenlange Reden.

Inzwischen ist Troller längst selbst zur Reporterlegende geworden, streitet mit seinen Erinnerungen. In seinem 2019 erschienenen Buch »Liebe, Lust und Abenteuer. 97 Begegnungen meines Lebens« (Corso-Verlag) kann man nicht nur von Begegnungen mit Prominenten lesen (wer nach Paris kommt, ist prominent oder will es werden). Er berichtet auch von Begegnungen in den USA, etwa mit einem im texanischen Huntsville lebenslang einsitzenden Vergewaltiger, den er bei einem »Knastrodeo« interviewt. Mit der Frage, warum er die Frau vergewaltig habe, geht Troller direkt auf ihn los. Die schockierende Antwort: »Vielleicht wollten wir sie überhaupt nicht. Nur uns rächen. Für was? Für unser Scheißleben.« Und Woody Allen antwortet auf die Frage, ob die Kunst das Leben nachahme: »Das Leben ahmt eine schlechte Fernsehserie nach. Würde es die Kunst nachahmen, so wäre es reichlich interessanter. Leider ist es zu dumm dazu.« So baut Troller, ein Zweifler vor dem Herrn, mit vielen Puzzleteilen an seinem Bild der menschlichen Komödie.

Auch Thomas Brasch und Katharina Thalbach hat Troller nach ihrer Ausreise aus er DDR 1976 fürs Fernsehen interviewt. Brasch verschließt sich misstrauisch allen Fragen: »Für mich ist Ihr Fernsehen nichts als ein großes Restaurant. Die Zuschauer sind die Gäste, Sie sind der Kellner, und ich bin das Schnitzel.« Nachdem der Beitrag fertig ist, verlangen die beiden, ihn vor der Ausstrahlung zu sehen, kommen nach Paris. Das Fazit von Katharina Thalbach: »So was Gutes hätte ich Ihnen eigentlich gar nicht zugetraut.« Trollers nachträglich angefügte Bemerkung: »Weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.« Jeder, der je mit Katharina Thalbach als Interviewer zu tun hatte, teilt diese Fassungslosigkeit, die sie blitzartig hervorrufen kann.

Abfuhren bekam er viele, aber die nahm er eher sportlich als Reporterschicksal. So beschimpfte ihn Alain Delon bei einem Interview, nach einigen unliebsamen Fragen, warum er sich »für so’n Scheiß« hergebe? Erst hinterher beim Thema Alimente wird er versöhnlich, empfiehlt Troller sogar seinen Anwalt. Überhaupt, all jene, die anfangs auf Kollisionskurs mit Troller sind, zeigen sich hinterher dann eher erfreut, ermutigen ihn sogar zu Gesprächsfortsetzungen - sogar Juliette Gréco. Salvador Dali lief geradezu zur verbalen Höchstform auf. Sein größtes Kunstwerk? »Die Dienstbarmachung der Neurose zur Zerstörung der Zeit.« Und die größte Kunst Trollers? Ich glaube, sie liegt im Mut, simple Fragen zu stellen und diese zur Not so lange zu wiederholen, bis er eine Reaktion bekommt.

Nur eine blieb hartnäckig unversöhnlich, aber da hatte Troller die menschliche Eitelkeit seines Gegenübers wieder einmal unterschätzt. Das achtjährige »Wunderkind« Minou fragte er: »Wie fallen dir deine Gedichte ein?« Die derart Angesprochene drehte sich brüsk weg. Ende des Interviews. Troller wusste, das war sein Fauxpas, er hatte die kleine Dichterin geduzt!

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -