- Berlin
- Muslimisch-jüdischer Dialog
Neuköllner Brückenbauer
Der Berliner Derviş Hizarci engagiert sich für den muslimisch-jüdischen Austausch. Nun ist er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden
Wenn Derviş Hizarci die Karl-Marx-Straße in Neukölln entlangläuft, kommt er um den einen oder anderen Plausch nicht herum. »Ah, Derviş! Schön, dich zu sehen! Wie geht’s dir?« »Merhaba, mein Lieber! Alles gut bei mir. Wie geht es den Kindern?« Man kennt den 38-Jährigen im Kiez rund um das Rathaus Neukölln. Hier ist Derviş Hizarci zusammen mit seinen Geschwistern aufgewachsen, hier hat er sein Abitur gemacht, hier wohnen bis heute seine Eltern. »Der Kiez mit seinen Leuten ist ein Stück Heimat, ich habe hier viele Freunde«, sagt er, etwas in Eile.
Derviş Hizarci hat noch etwas vor, aber nicht viel Zeit. Der Vater von zwei Kindern, der heute in Charlottenburg-Wilmersdorf wohnt, möchte seinen Neuköllner Lieblingsort zeigen. An der Richardstraße, zwischen Uthmannstraße und Richardplatz, bleibt Hizarci vor einem Holztor stehen. Er öffnet es behutsam und tritt in die Grünanlage dahinter ein, den Comenius-Garten. »Wenn ich in Neukölln bin, schaue ich hier immer vorbei.«
In dem nach dem tschechischen Philosophen Johann Amos Comenius aus dem 17. Jahrhundert benannten kleinen öffentlichen Park hat Derviş Hizarci als Jugendlicher mit seinen Freunden, die wie er meist türkischer Abstammung waren, viel Zeit verbracht. Hier haben sie Quatsch gemacht, über Mädchen, Gott und die Welt gesprochen, andere Cliquen getroffen. Und hier hat Derviş Hizarci Menschen unterschiedlichster Herkunft kennengelernt und angefangen, sich für ihre Geschichten zu interessieren. »Ich würde sagen, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland für mich immer auch eine Auseinandersetzung mit meinen eigenen Erfahrungen ist - in Bezug auf meine Herkunft, Diskriminierung, aber auch auf meine Religiosität«, sagt er, und fügt hinzu: »Was heißt es überhaupt, in unserer heutigen Gesellschaft jüdisch und deutsch, muslimisch und deutsch zu sein?«
Fragen nach Identität, Zugehörigkeit und Ausgrenzung haben Hizarci seit seiner Jugend in Neukölln beschäftigt. »Ich hatte eine ganz wunderbare Kindheit in einem multikulturellen Kiez. Aber trotzdem gab es auch Momente, in denen ich selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht habe.« Die Fragen haben ihn, den gläubigen Muslim, beschäftigt, als er sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus auseinandergesetzt hat. »Auf einmal galt meine Religion, die mir bis dahin Halt und Werte gegeben hat, als Brutstätte des Terrorismus.«
Auf der anderen Seite sind ihm zu dieser Zeit in seinem Umfeld vermehrt antisemitische Verschwörungserzählungen begegnet, für die die Anschläge als Schablone dienten. »Manchmal hatte ich das Gefühl, dass einige muslimische Kids das ihnen entgegengebrachte Misstrauen einfach auf Juden als Abstraktum übertragen haben«, sagt Hizarci. Während seiner Studienzeit in Magdeburg und Berlin - Geschichte und Politik auf Lehramt - wurde ihm klar: Die Stigmatisierung einer gesellschaftlichen Gruppe mit der einer anderen zu kompensieren, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern einfach nur unsinnig.
Nach seinem Studium machte Derviş Hizarci sein Referendariat im Berliner Bezirk Lichtenberg. Später unterrichtete er an einer Gemeinschaftsschule in Kreuzberg. In dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit dem Judentum, mit deutsch-jüdischer Geschichte, mit Antisemitismus und der Schoa. Im Jüdischen Museum Berlin engagierte er sich über Jahre in der Bildungsabteilung. Doch Hizarci reichte der museale Rahmen nicht. Er wollte breiter arbeiten, stärker in die Gesellschaft hineinwirken. In Kreuzberg lernt er Aktive aus der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) kennen. Sein Vollzeit-Engagement beginnt.
Seit 2015 ist Derviş Hizarci Vorstandsvorsitzender der KIgA. Es ist auch sein Verdienst, dass die Initiative heute eine renommierte und international bekannte Nichtregierungsorganisation ist. Als zivilgesellschaftlicher Verein aus dem Kiez 2003 ins Leben gerufen, werden die pädagogischen Konzepte der Initiative inzwischen von der Bundesregierung gefördert, in ganz Deutschland angeboten und finden auch über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. Zu den Angeboten der KIgA zählte unter anderem ein sogenanntes Peer-to-Peer-Projekt, bei dem junge Muslime an Schulen Altersgenossen über antisemitische Stereotype aufklären. »Antisemitismusprävention kann hier nur funktionieren, wenn sie rassismuskritisch ist«, sagt Hizarci, der seinen Lehrerjob für sein Engagement an den Nagel gehängt hat. Man müsse den jungen Leuten verdeutlichen: »Wenn du nicht willst, dass andere deine eigene Community stigmatisieren und Mist über sie erzählen, wieso lässt du das dann bei einer anderen Community zu?«
Anfang Dezember hat Derviş Hizarci den Bundesverdienstorden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) überreicht bekommen - für sein »Engagement in der Einwanderungsgesellschaft«, für seinen unermüdlichen Einsatz. Und das nicht nur bei der Kreuzberger Initiative. Die Auszeichnung gab es genauso für Hizarcis Mitwirkung bei der unter anderem vom Bundesfamilienministerium geförderten Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, für seine Rolle beim Verein Juma - kurz für: jung, muslimisch, aktiv - , für seine Beraterfunktion beim Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, für das von ihm gegründete Projekt DialoWG. Bei Letzterem leben jüdische und muslimische Menschen für jeweils acht Tage in einer Wohngemeinschaft zusammen und lernen die jeweils andere Kultur und Religion kennen.
»Der Dialog zwischen den Communities muss in organisierten Foren beginnen, wo man sich begegnen kann. Wenn das Ganze dann aber nicht unterfüttert wird, bleibt es eine Nische«, sagt der Antidiskriminierungsexperte. Mit »unterfüttern« meint Hizarci freundschaftliche, alltägliche Begegnungen jenseits von öffentlichkeitswirksamen Formaten. Das sei keineswegs immer einfach, weil dabei auch Themen angesprochen werden, bei denen man nicht unbedingt einer Meinung ist. »Dialog auf Augenhöhe bedeutet, sich zu überwinden und andere Ansichten zu akzeptieren.«
Mit dieser Einstellung hat Derviş Hizarci in Berlin über die Communitygrenzen hinweg viele Freunde gefunden. Einer von ihnen ist der Intendant der Komischen Oper in Berlin, der jüdische deutsch-australische Opern- und Theaterregisseur Barrie Kosky. Spricht man Kosky auf seinen Freund an, kommt der gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus: »Derviş ist ein Brückenbauer, der Menschen, Kulturen, Generationen zusammenbringt mit dem Spirit, der uns alle verbindet. Wir brauchen viel mehr Dervişe!«
Mit diesem »Spirit« will Derviş Hizarci in den kommenden Jahren weitermachen und sich für eine vielfältige Gesellschaft engagieren, in der Antisemitismus und Rassismus keinen Platz haben und eine Erinnerungskultur gelebt wird, die alle Menschen miteinbezieht. Auch wenn das eine zeitaufwendige Aufgabe ist und ihn sein Engagement an viele Orte der Welt bringt, wird sich der Vollzeitaktivist für eines immer ein wenig Zeit nehmen: einen Spaziergang durch den Richardkiez zum Comenius-Garten.
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