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Kritisches zum Jubiläum

»Church for Sale« - eine Ausstellung als künstlerische Antwort auf die Gentrifizierung in Berlins Mitte

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Ruben Ochoa, »Get off my black«, 2010
Ruben Ochoa, »Get off my black«, 2010

Eine etwa zehn Meter hohe Wand schneidet in stumpfem Winkel durch die große Halle des Hamburger Bahnhofs. Sie ist aus Metallelementen gefertigt, die sonst auf Baustellen benutzt werden. Die Oberfläche ist von Wind und Wetter sowie mechanischen Beanspruchungen gezeichnet. Eingezogen hat sie der Architekt Arno Brandlhuber. Nicht, weil er den Hamburger Bahnhof umbauen soll. Vielmehr geht es um eine Sichtbarmachung von Konflikten bei der Nutzung des angrenzenden Areals. Die temporäre Wand verlängert und materialisiert Linien aus dem Bebauungsplan. Bei dem Gelände um den Hamburger Bahnhof handelt es sich schließlich um ein Filetgrundstück im Herzen Berlins, das bei Investoren dementsprechend beliebt ist. Die Linien des Bebauungsplans richten sich, wie man am Standort der Wand ablesen kann, nicht nach dem Grundriss des historischen Gebäudes, sondern schneiden quer dazu in den Baukörper. Bis vor Kurzem war auch die nähere Zukunft dieser gerade 25 Jahre alt werdenden Kunstinstitution unklar. Die angrenzenden Rieck-Hallen, die sowohl Ausstellungsfläche wie notwendige Depotkapazitäten beherbergen, sollten abgerissen werden. Die Bedrohung war sehr real. Die Wand und die gesamte Jubiläumsausstellung »Church for Sale« darf man deshalb getrost als künstlerische und kuratorische Antwort auf diese Gefahr lesen.

Konflikte um Land und Bebauung spielen daher eine zentrale Rolle dieser Ausstellung. Rechts vor der Wand hat der spanische Künstler Santiago Sierra vier große Plastikbehälter mit Erde aufgestellt. Sie umfassen jeweils einen Kubikmeter Erde. Sierra sicherte sich 2013 insgesamt 40 Kubikmeter Erdreich aus der baskischen Hauptstadt Bilbao. Die ist, ähnlich wie Berlin, enormen Gentrifizierungsprozessen ausgesetzt, verstärkt auch durch das in seiner Form spektakuläre Guggenheim Museum dort. Wem gehört das Land, wem gehört die Erde, scheinen diese vier unförmigen Objekte zu rufen. Vermutlich ist auch Beton, für Tiefgaragen etwa, an ihre Stelle getreten.

An einer Wand schräg gegenüber sind die Aquarelle der Titel gebenden Werkserie »Church for Sale« des US-amerikanischen Künstlers Edgar Arceneaux angebracht. Arceneaux produzierte sie auf dem Höhepunkt des Ausverkaufs der Stadt Detroit. Sie zeigen Verkaufswerbebanner für abzugebende Kirchen - ein Hinweis darauf, dass nicht einmal Sakralbauten dem Verscherbeln entgingen. Es ist ein mittlerweile schon klassisch gewordenes Berliner Thema, das hier in sehr markanten und teils auch von der Größe her beeindruckenden Werken bearbeitet wird.

»Church for Sale« wendet sich aber auch anderen Problemfeldern zu, bei denen es sich letztendlich, ähnlich wie beim Immobilienproblem, um Zugangsrechte und deren Verweigerung handelt. An einem Durchlass in der Metallwand von Brandlhuber befindet sich die Videoinstallation »Crossing Surda« von Emily Jacir. Die palästinensisch-amerikanische Künstlerin dokumentiert darin den beschwerlichen Weg für die palästinensische Bevölkerung, um einen Checkpoint der israelischen Armee ins Westjordanland passieren zu dürfen. Jacir wurde zunächst das Filmen verweigert. Sie platzierte die Kamera dann im Rucksack, in den sie ein Loch schnitt, durch das sie filmte. Unwillkürlich nimmt man den Rhythmus der Schritte auf und erlebt eine erzwungene Verlangsamung in einem Zeitalter, das doch durch Effizienz und Geschwindigkeit geprägt ist. Für die, die keine Macht haben, gibt es aber immer wieder neue Hindernisse.

Weitere Arbeiten dieser Ausstellung gehen auf die Konsequenzen ein, die Unterdrückung und Ausbeutung ebenfalls mit sich bringen. Menschen versuchen sich dem durch Flucht zu entziehen. Der chilenische Künstler Alfredo Jaar übersetzte die gängigsten Fluchtrouten der Gegenwart in ein abstraktes Gebilde aus Pfeilen aus Neonröhren. Und der Schweizer Künstler Christoph Büchel geht auf die Instrumente ein, mit denen die Herrschenden des globalen Nordens ihr System aufrechterhalten wollen. »Dummy (F-16)« ist die in Originalgröße hergestellte Plastikreplik eines US-Kampfjets. Es handelt sich nur um dessen Hülle, die durch Pressluft aufgeblasen wird. Zur Ausstellungseröffnung war der Dummy vor dem Eingang aufgestellt. Weil er, anders als das Original, dem Berliner Winterwetter aber nicht standhält, wurde er abgebaut und wird erst zum Ende der Ausstellung wieder zu sehen sein. Von Büchel ist auch die Videoarbeit »AC-130 Gunship Targeting Video« im Inneren der Ausstellungshalle platziert. Sie zeigt aus der Perspektive von Bomberpiloten einen Luftangriff in Afghanistan. Für die Person am Auslöser und für die Betrachter des Videos bleibt der Krieg seltsam entrückt auf der Ebene eines Videospiels. Wer von den Bomben und Raketen getroffen ist, ja, wer nur in der Nähe ist, erlebt den Einschlag aber sehr direkt und physisch.

»Church for Sale« ist eine bemerkenswert politische Ausstellung des Hamburger Bahnhofs. Die Vielzahl der angeschnittenen Themen mag zunächst überwältigen oder ermüden. Es stellen sich aber vielfältige Verknüpfungen zwischen den einzelnen Großthemen her. Der Ausstellungsraum in der ehemaligen Bahnhofshalle ist auch groß genug, um die einzelnen Arbeiten wirken zu lassen. Und auch ästhetisch stellen sich zahlreiche Bezüge her. Viele Arbeiten zeichnen sich durch die Strenge und formale Klarheit der Minimal Art aus. Sie erweitern sie aber durch eine dezidiert politische Schicht. Zu seinem 25. Jubiläum befreit sich der Hamburger Bahnhof mit dieser Ausstellung auch spürbar von der oft glatten, das Politische häufig nur als Nuance aufgreifenden Repräsentationskunst, die durch die langjährige Zusammenarbeit mit der Flick Collection das Haus prägte. Der Leihvertrag endete in diesem Jahr. Der Verlust vieler wichtiger Werke ist sicher schmerzlich. Es eröffnen sich aber auch neue Horizonte.

Das zeigt neben »Church for Sale« auch die zweite Jubiläumsausstellung »Nation, Narration, Narcosis«. Sie geht in enger Zusammenarbeit mit Werken aus den Sammlungen der Nationalgalerien von Singapur und Indonesien der Frage der Nationenwerdung und des Nationenformens nach.

Die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven soll in Zukunft noch stärker in die Arbeit des Hamburger Bahnhofs einfließen. Das gilt, so sagte Kuratorin Gabriele Knapstein »nd«, sowohl für die Ausstellungstätigkeit als auch für den Aufbau der Sammlung. In der dreiköpfigen Ankaufskommission befindet sich schon länger jeweils eine Person mit Expertise in der zeitgenössischen Kunst außerhalb von Europa. Die neu berufenen Direktoren Sam Bardaouilh und Till Fellrath haben in der Vergangenheit zahlreiche Ausstellungen zu zeitgenössischer Kunst im arabischen Raum realisiert.

Voraussetzung dafür ist aber, dass der Hamburger Bahnhof in seiner jetzigen Konfiguration mit den Rieck-Hallen gesichert wird. Der alte Berliner Senat hat mit dem Grundstücksbesitzer, der IMMO AG, ein »Memorandum of Understanding« vereinbart, das einen Grundstückstausch vorsieht. Die neue Regierung muss den Vertrag jetzt umsetzen. Als Mahnung für eine gute Umsetzung taugt »Church for Sale« daher vortrefflich. Verkaufsbanner sollten eben nicht an dem alten Bahnhofsgebäude und den benachbarten Rieck-Hallen kleben.

»Church for Sale«, noch bis 19. Juni 2022, Hamburger Bahnhof, Berlin-Mitte

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