Neuanfang in Amazonien

Viele Venezolaner versuchen jenseits der Grenze in Brasilien ihr Glück

  • Lisa Kuner, Pacaraima
  • Lesedauer: 7 Min.

Rucksack auf dem Rücken, Kleinkind an der Hand und eine Decke über dem Arm - so erreichen viele Migrant*innen aus Venezuela Brasilien. Nach offiziellen Angaben kommen täglich rund 300 Menschen ins Land. Es dürften aber deutlich mehr sein. Hinzu kommen nämlich noch jene, die über Schmuggelrouten die Grenze überqueren.

Die Straßen der kleinen Grenzstadt Pacaraima im Norden Brasiliens sind unübersichtlich geworden. An vielen Ecken stehen Zelte oder Hütten aus Pappe und Plastikplanen. Dazwischen Menschen, die all ihre Habseligkeiten am Körper tragen. Sie warten entweder darauf, einen Platz in einem Flüchtlingscamp zu bekommen oder auf eine Möglichkeit, weiter ins Landesinnere zu reisen. Seit Monaten sind die rund 5000 Plätze in den Notunterkünften belegt - Platz finden dort vor allem besonders vulnerable Gruppen, schwangere Frauen, Familien mit kleinen Kindern oder Kranke. Das hält aber kaum jemanden ab, über die Grenze zu gehen - rund 600.000 Menschen haben seit 2016 Venezuela in Richtung Brasilien verlassen.

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Der 33-jährige Noiberio Parede ist bereits vor drei Jahren aus Venezuela nach Brasilien gekommen. Er gehört zur indigenen Ethnie der Warao und lebt in dem Flüchtlingscamp Janokoida. In der Sprache der Warao bedeutet das großes Haus. Zwei Hallen stehen auf dem Gelände, in Hängematten sind dort knapp 500 Menschen untergebracht. Überall spielen kleine Kinder, draußen klettern ein paar ältere auf einem improvisierten Klettergerüst. Parede ist ein Aidamo, ein indigener Anführer. Auch seine beiden Kinder sowie der Rest seiner Familie sind inzwischen in Brasilien. »Die Situation in Venezuela war zuletzt sehr hart«, erinnert er sich. Die wirtschaftliche Krise habe auch die Indigenen stark getroffen, außerdem hätten sie immer stärker mit der Verschmutzung ihres Landes zu kämpfen und zuletzt sei auch das Gesundheitssystem zusammengebrochen. »Wir suchen hier eine Zukunft für unsere Kinder«, sagt er.

Während viele Brasilianer*innen anfangs noch Verständnis für die Geflüchteten zeigten und sich um eine Willkommenskultur bemühten, wurde die Stimmung in den letzten Jahren immer angespannter: Es kam vermehrt zu Übergriffen, die Gewalt gipfelte darin, dass Anwohner*innen von Pacaraima im August 2018 eine der Flüchtlingsunterkünfte in Brand steckten.

Seitdem hat sich die Lage zwar etwas beruhigt - angespannt ist die Situation aber noch immer. An einem Nachmittag im Oktober hat die Stadt zu einer öffentlichen Anhörung geladen. Sie findet auf dem überdachten Sportplatz der Kleinstadt statt. Sowohl das Spielfeld als auch die Tribünen sind voll besetzt. Es hat mehr als 30 Grad, unter den Corona-Masken laufen vielen Zuschauern Schweißperlen über die Gesichter.

Der einzige Tagesordnungspunkt: Wie umgehen mit den vielen Geflüchteten? »Sie rauben unsere Häuser aus, zerstören, vergewaltigen«, behauptet ein Anwohner. Die Kriminalität steige mit den vielen Menschen auf der Straße, seine Kinder fühlten sich nicht mehr sicher, schimpft er. Das Militär solle hier endlich mal durchgreifen und für Sicherheit sorgen. »Wir Lehrer sind mit all den Kindern, die kein Portugiesisch sprechen, völlig überfordert«, beschwert sich eine Lehrerin. Der Subtext der meisten Reden: Sie wünschen sich, dass die Grenze zu Venezuela geschlossen wird. Das wird aber unmöglich sein, denn kein Mensch kann die Hunderte Kilometer lange Grenze im amazonischen Regenwald kontrollieren.

Juliano Turquato, Bürgermeister von Pacaraima, sagt, er habe Angst, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Vor allem die Gesundheitsversorgung komme inzwischen an ihre Grenzen. Ende November ist das geschehen, was Turquato befürchtet hat: Die Situation eskaliert wieder, nachdem ein lokaler Händler bei einem Überfall getötet wurde. Anwohner*innen gingen auf die Straße und errichteten Blockaden. Eine schwierige Situation - vor allem inmitten einer Pandemie. Wenig hilfreich ist zudem, dass die brasilianische Regierung gerade eine weitere Kürzung der Mittel für humanitäre Hilfe in der Region angekündigt hat.

Die ankommenden Venezolaner*innen lassen sich davon aber nicht abschrecken. »In Venezuela litten wir Hunger, alles hat gefehlt, die Kinder hatten nichts anzuziehen«, erzählt Nohelys Josefina Bravo Mata. »Meine Arbeit hat nicht gereicht, um uns zu versorgen.« Die Situation sei immer schlimmer geworden. Im Januar 2020 ist sie schließlich mit ihrer dreijährigen Tochter Ronnielys Valentina und ihrem 15 Jahre alten Sohn Antonio José zu Fuß nach Pacaraima gekommen. Ihr Ehemann hoffte noch darauf, dass sich die Situation in Venezuela verbessert und blieb erst mal dort.

Pacaraima liegt im Norden von Brasilien, im Bundesstaat Roraima. Für viele Migrant*innen ist die Grenzstadt nur eine Durchgangsstation. Das nächste Etappenziel ist meistens Boa Vista, die rund 200 Kilometer entfernte Hauptstadt des Bundesstaats. Auch Bravo reist mit ihren Kindern dorthin.

Einige Tage verbringen sie halb auf der Straße, halb in einem provisorischen Zeltlager, bevor sie schließlich einen Platz in einem Camp bekommen. Es besteht aus kleinen Schutzhütten ohne Strom, es gibt kaum Privatsphäre oder Infrastruktur. »Wir müssen uns an sehr viele Regeln halten, und mit so vielen Menschen zusammenzuleben ist nicht einfach«, sagt Bravo.

Immer wieder gibt es Meldungen von Misshandlungen durch das brasilianische Militär in den Lagern. Im August etwa sollen sie betrunkene Bewohner*innen in einer »Ecke der Schande« zum Ausnüchtern angebunden haben. Mitarbeiter des Camps bezeichneten die Vorfälle als Folter und als Verstoß gegen die Menschenrechte.

Bravo versucht, sich anzupassen und Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. »Ich hatte nie große Probleme in der Unterkunft.« Trotzdem will sie das Camp schnell hinter sich lassen. Sie lernt Portugiesisch, engagiert sich im Gesundheitskomitee des Flüchtlingscamps und belegt Qualifizierungskurse. Vor einem Jahr ist ihr Ehemann Romer Rafael Dama Piano nachgekommen. Auch er hat inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Situation in Venezuela verbessert.

Eine besondere Herausforderung für die Behörden im Norden Brasiliens ist die Integration der rund 5000 indigenen Geflüchteten. Die meisten gehören zur Ethnie der Warao. »Wir gewöhnen uns nur schwer an das Leben in dem Flüchtlingscamp«, erzählt der Warao Noiberio Parede. Die Unterbringung dort unterscheide sich sehr von der traditionellen Lebensweise der Warao, sagt der Anthropologe Carlos Alberto Marinho Cirino von der Universität in Roraima, der schon lange zu indigenen Gemeinschaften in der Region forscht. »Wir versuchen, ihnen in den Camps unsere Regeln aufzudrücken«, sagt er. Auch Parede ist mit der Situation unzufrieden: »Eigentlich ist Landwirtschaft unser Leben, hier haben wir kein Land.«

Die Mitarbeitenden in den Camps versuchen zwar, auf die besondere Situation der Indigenen einzugehen: Sie können hier in großen Familienverbünden von 30 oder 40 Menschen zusammenleben, es gibt Möglichkeiten für sie, traditionelle Lebensmittel zuzubereiten. Aber ein selbstbestimmtes Leben ersetzt das nicht. Die Integration der Indigenen wird auch dadurch erschwert, dass sie schlechter vorbereitet als andere nach Brasilien kommen. »Sie haben seltener einen Schulabschluss und manche sprechen auch kein Spanisch, sondern nur ihre eigene Sprache«, erklärt Cirino. Außerdem sind sie besonders häufig Opfer von rassistischen Anfeindungen.

Gerade für den Arbeitsmarkt sind das schlechte Voraussetzungen. Denn im Norden von Brasilien treffen die Migrant*innen nämlich nicht nur auf menschliche Ablehnung, sie sind auch einer gewissen wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit ausgesetzt: Der Bundesstaat Roraima ist Tausende Kilometer von Brasiliens wirtschaftlichen Metropolen entfernt, bis in die nächste Großstadt Manaus braucht der Bus zwölf Stunden, nach Brasília sind es sogar drei Flugstunden. Arbeit zu finden ist in dieser abgelegenen Region schwierig, für die Geflüchteten ganz besonders. Auch die brasilianische Regierung sieht das so - mit einem Integrationsprogramm unterstützt sie die Weiterreise der Venezolaner*innen innerhalb Brasiliens.

Bravo nimmt mit ihrer Familie daran teil, denn in Roraima sieht sie nicht ihre Zukunft. Nach Brasília in die Hauptstadt will sie. Das Integrationsprogramm wird ihnen dort in den ersten Monaten eine Wohnung finanzieren. Bravo war in Venezuela Sanitäterin, sie hofft, dass sie in diesem Bereich schnell einen Job findet. »Aber für meine Kinder werde ich auch jede andere Arbeit annehmen.« Sie und ihr Ehemann sind optimistisch, dass sie bald auf eigenen Füßen stehen werden.

Für den Indigenen Noiberio Parede ist dagegen noch nicht klar, was seine nächsten Schritte sein werden. Nach Venezuela will er nicht zurück, auch er sieht seine Zukunft in Brasilien. »Wir träumen von einem eigenen Stückchen Land, wo wir wieder von unserer traditionellen Landwirtschaft leben können«, sagt er. Das aber zu finden, ist nicht einfach. Zwar hofft er auf die Unterstützung der brasilianischen Behörden, aber Hilfe ist ungewiss: Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro will Indigenen nämlich keinen Millimeter Land mehr zusprechen.

Die Recherche für diese Reportage wurde durch ein Stipendium der Deutschen Gesellschaft der Vereinten Nationen gefördert.

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