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Schutzlos ausgeliefert in Deutschland
Asylsuchende erfahren täglich Gewalt - Organisationen kritisieren unzureichende Erfassung
Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt nach Deutschland - und sind auch hier nicht sicher. Jibran Khalil wird im Sommer 2018 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause in Potsdam rassistisch beschimpft: »Du hast hier nichts zu suchen. Wir sind Deutsche, nicht du«, sagt der Mann zu ihm. Khalil floh 2013 aus Pakistan und lebt heute in Brandenburg. Was er erlebt, ist einer von 1212 flüchtlingsfeindlichen Vorfällen, die in dem Bundesland zwischen 2015 und 2019 dokumentiert wurden, darunter 342 Körperverletzungen. »Kein anderes Bundesland verzeichnet - im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl - mehr Übergriffe auf Asylsuchende.«
So steht es in dem Bericht »Leben in Gefahr. Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland«. Er beruht auf einer gemeinsamen Langzeitstudie von der Amadeu Antonio Stiftung und der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, die am Donnerstag vorgestellt wurde. Auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind die Zahlen im Verhältnis zur Bevölkerung überdurchschnittlich hoch. Aber: »Wir sehen eine eskalierende Gewalt gegen geflüchtete Menschen bundesweit«, sagt Tahera Ameer, Rassismus-Expertin der Amadeu Antonio Stiftung.
In ganz Deutschland erfassten die Organisationen zwischen 2015 und 2019 insgesamt 10 936 rassistische Angriffe auf Asylsuchende, darunter 276 Brandanschläge, 1895 Körperverletzungen und 8765 sonstige Übergriffe wie Böller- oder Steinwürfe oder rechte Schmierereien. Die Datengrundlage des Berichts sind öffentlich zugängliche Berichte in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen der Polizei sowie Meldungen lokaler und regionaler Register- und Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Und genau hier sehen die Organisationen ein großes Problem: die mangelhafte Erfassung flüchtlingsfeindlicher Gewalt durch die Polizei. Das Thema sei seit 2018 schlagartig aus den Debatten und Schlagzeilen verschwunden, sagte Ameer. »Gewalt gegen Geflüchtete ist aber weiterhin ein massives Problem.« Nur, weil darüber niemand mehr spreche, habe sich die Situation der Betroffenen nicht gebessert. Pressemitteilungen habe es nur gegeben, als das öffentliche Interesse groß genug war. »Es kann nicht sein, dass wir zwar wissen, wie viele Handtaschen 2020 gestohlen werden, aber schwere Körperverletzungen, Anfeindungen und Mordversuche gegen Geflüchtete in der offiziellen Statistik nicht auftauchen«, sagt die Expertin. Der Bericht ende deshalb auch 2019, weil die Zahlen aus 2020 und 2021 noch nicht vollständig seien.
Für das Jahr 2020 habe das Bundeskriminalamt rund 1700 Fälle politisch motivierter Kriminalität gegen Geflüchtete erfasst. Doch viele Fälle tauchten in dieser Polizeistatistik gar nicht auf oder würden nicht als »politisch motivierte Kriminalität rechts« (PMK-rechts) gewertet. Als Beispiel dafür führt Ameer zwei Geflüchtete an, die auf dem Fahrrad unterwegs waren, als ein Autofahrer plötzlich versuchte, sie mit dem Auto zu überfahren. Sie konnten ausweichen. Kurze Zeit später habe ein anderer Geflüchteter dasselbe berichtet. Dieser Fall sei bis heute nicht als PMK-rechts eingestuft worden.
»Wenn die Opfer sich nicht an Beratungsstellen wenden, erfährt in vielen Fällen niemand, dass diese Gewalt stattgefunden hat«, sagt Ameer. Es fehle der Polizei an Aufmerksamkeit, Sensibilität und Ressourcen, um diese Straftaten zu verfolgen. Außerdem kritisierte sie, dass es den einzelnen Polizeidienststellen obliege zu entscheiden, ob sie einen Fall für relevant genug halten, um ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und darüber, ob ein Fall als »PMK-rechts« eingestuft werde. »Wir fordern, dass die Innenministerien die Direktive rausgeben, dass zumindest politisch motivierte Kriminalität im Interesse der Öffentlichkeit liegt und damit per Pressemitteilung auch begleitet werden muss.«
Ein weiteres Problem sei die psychosoziale Versorgung der Geflüchteten. »Ein Großteil der Menschen, die in Deutschland vor Folter, Krieg und Verfolgung Schutz suchen, wird mit ihren traumatisierenden Erfahrungen allein gelassen«, erklärt Lukas Welz, geschäftsführender Leiter des Bundesverbandes psychosozialer Zentren für Überlebende von Folter, Krieg und Flucht (BAFF). Der deutsche Staat komme hier seiner Verpflichtung nicht nach, Geflüchtete menschenwürdig und in Sicherheit unterzubringen. Es gäbe derzeit 500 000 Geflüchtete mit einem psychosozialen Versorgungsbedarf in Deutschland, nur 25 000 seien in psychosozialen Zentren untergebracht. »Die unzureichende Versorgung von Traumata führt dazu, dass die erlebte Gewalt langfristige Folgen hat«, sagt Welz.
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»Wir brauchen ein entschlossenes Vorgehen des neuen Innenministeriums«, appellierte schließlich der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Er forderte die Ampelkoalition auf, eine Bleiberechtsregelung für Betroffene rassistischer Gewalt zu schaffen. Außerdem müsse die Unterbringung Geflüchteter in Ankerzentren beendet und die Strukturen in der Flüchtlingsarbeit gestärkt werden.
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