Ein Kämpfer für die Regenbogennation

Desmond Tutu, der frühere Erzbischof von Kapstadt, widersetzte sich der Apartheid und wollte die Versöhnung. Jetzt ist er gestorben

  • Christian Selz
  • Lesedauer: 8 Min.

In seinem 2015 erschienen Werk »The Book of Forgiving« erinnert Desmond Tutu an eine der dunkelsten Episoden seiner Kindheit. »Es gab viele Nächte, in denen ich als kleiner Junge hilflos mit ansehen musste, wie mein Vater meine Mutter verbal und physisch misshandelt hat«, schreibt der emeritierte Erzbischof von Kapstadt darin und beschreibt dann seine Erinnerungen an den Alkoholgestank des Vaters, die Angst in den Augen der Mutter und seine eigene hoffnungslose Verzweiflung. »Wenn diese Erinnerungen in mir aufsteigen«, gesteht Tutu sich ein, »kann ich fühlen, wie ich meinem Vater ebenfalls weh tun will, genauso, wie er meiner Mutter weh getan hat und auf eine Weise, wie ich es als kleiner Junge nicht konnte.«

Doch Tutu schlug nie zurück. Stattdessen nutzte er die Erinnerung an die eigene Vergangenheit für ein Plädoyer für etwas, wofür er Zeit Lebens kämpfte: Vergebung. »Zurückzuschlagen schafft selten Befriedigung«, schreibt Tutu und geht noch weiter: »Ohne Vergebung bleiben wir an die Person gekettet, die uns weh getan hat. Wir sind gefesselt mit Ketten aus Verbitterung, zusammengebunden, in der Falle. Solange wir der Person nicht vergeben können, die uns weh getan hat, hat diese Person den Schlüssel zu unserem Glück, diese Person ist unser Gefängniswärter. Wenn wir vergeben, erlangen wir die Kontrolle über unser eigenes Schicksal und unsere Gefühle zurück. Wir werden zu unseren eigenen Befreiern.«

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Ein unbeugsamer Mahner

Was Tutu in seinem Buch auf das Private bezogen hat, kann zweifelsohne auch auf sein Heimatland übertragen werden. Die südafrikanische Gesellschaft leidet bis heute an den Traumata von dreieinhalb Jahrhunderten Kolonialherrschaft, Sklaverei und Apartheid. Die Nation ist tief gespalten, in Schwarz und Weiß, Arm und Reich, Besitzen und Betteln, Hungern und Essen. Desmond Tutu hat dagegen angekämpft, unermüdlich, nie auf Seiten der Macht, immer unbequem, mit den Mitteln seines Glaubens. Am Sonntag starb Südafrikas letzter überlebender Friedensnobelpreisträger, der frühere Erzbischof von Kapstadt im Alter von 90 Jahren in einem Pflegeheim in Kapstadt. Mit ihm verliert sein Land einen absolut unbeugsamen Mahner für Gerechtigkeit.

Tutus wohl bedeutendstes Erbe ist die Vision von der »Regenbogennation«. Der Begriff, den er selbst geprägt hat, beschreibt ein Südafrika, in dem Menschen aller Hautfarben friedlich und gleichberechtigt zusammenleben.

Es ist leicht, die Zyniker zu bedienen, die sich im Scheitern dieser Vision bestätigt sehen wollen. Zugleich ist es schwer, an die baldige Realisierung dieser Regenbogennation zu glauben. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Südafrika in den bald drei Jahrzehnten seit dem Ende der Apartheid - gemessen an ökonomischen Kennzahlen - noch größer geworden, anstatt überwunden zu werden. Teile der neuen schwarzen politischen Elite gefallen sich darin zu polarisieren und die Verarmung, Perspektivlosigkeit und Wut der Massen opportun zu instrumentalisieren. Sie tun das, um zu kaschieren, dass sie es sich längst als Nachbarn der alten weißen Besitzstandswahrer in den noblen Villen der Vorstädte bequem gemacht haben.

Moralisch geboten

Tutu hat diese Tendenzen gehasst und gegeißelt. Als der African National Congress (ANC) vor der Wahl 2009 den mit Vergewaltigungs- und Korruptionsvorwürfen belasteten Jacob Zuma zu seinem Präsidentschaftskandidaten machte, erklärte Tutu öffentlich, diese Partei nicht mehr zu wählen. Er hat den Mächtigen innerhalb der einstigen Befreiungsbewegung immer wieder den Spiegel vorgehalten und nicht davor zurückgeschreckt, ihre Machenschaften mit denen des Apartheid-Regimes zu vergleichen. Historisch korrekt mag das nicht immer gewesen sein, moralisch aber geboten. Einen anderen Kompass hatte Desmond Tutu nicht.

Zuma und der ANC gewannen damals freilich trotzdem; der neue Präsident machte sich unverzüglich daran, Schlüsselpositionen in Staatsbetrieben, Ministerien, Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten mit seinen Leuten zu besetzen. Anschließend plünderte seine Clique Südafrika bis zu seinem erzwungenen Rücktritt 2018 neun lange Jahre lang nach allen Regeln der Kunst aus. Dass das Land heute so weit vom Regenbogen entfernt ist, hat weit mehr damit zu tun als mit einer etwaigen Naivität, die Tutu bisweilen unterstellt wird. Es liegt aber auch daran, dass die alten weißen Eliten nach dem Ende der Apartheid weitgehend ungeschoren davon kamen. Für seinen Anteil daran wird Tutu bis heute kritisiert.

Als die neue, demokratische Regierung unter Nelson Mandela 1994 antrat, beantwortete sie die Frage der Vergangenheitsbewältigung mit der Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die sollte nicht nur die Verbrechen des alten Regimes herausfinden, sondern auch innerhalb der Befreiungsorganisationen, also auch im ANC, ermitteln. Tutu übernahm den Vorsitz der Kommission, die zwischen 1996 und 1998 in unzähligen öffentlichen, live im Fernsehen übertragenen Anhörungen die Opfer berichten und die Täter gestehen ließ. Denen wurde im Gegenzug Straffreiheit zugesichert. Die Wahrheit, so glaubte Tutu, sollte den Opfern und ihren Angehörigen die Möglichkeit geben, den Tätern zu vergeben, um so mit ihren Traumata abschließen zu können.

Für Tutu selbst waren die Repressalien und brutalen Methoden des Apartheid-Regimes nichts Unbekanntes. Aufgewachsen in einfachen, aber nicht verarmten Verhältnissen, hatte er zunächst versucht, unter den Bedingungen des rassistischen Systems zurechtzukommen. Als er die Gebühren für ein Studium der Medizin in Johannesburg nicht aufbringen konnte, wurde er stattdessen Lehrer. Als das Regime Bildung für Schwarze mit dem Bantu Education Act ab 1953 nahezu unmöglich machte, hängte Tutu den Lehrerberuf zwar wieder an den Nagel und begann stattdessen ein Theologiestudium, legte sich aber noch immer nicht mit dem System an.

Doch als Tutu 1968 - er hatte inzwischen die Stelle als anglikanischer Kaplan an der Universität Fort Hare in Südafrikas Kap-Provinz übernommen - schwarze Studierende unterstützte, die wegen eines Sitzstreiks von einer Hundestaffel der Polizei umringt waren, begann das Regime ihn ins Visier zu nehmen. Vier Jahre später, als er in London die Stelle als Afrika-Direktor des Theologischen Bildungsfonds des Internationalen Missionsrats antreten wollte, verweigerte ihm die Regierung in Pretoria zunächst die Ausreise. Zusätzlich zu der Fort-Hare-Geschichte war es dem Regime ein Dorn im Auge, dass der hinter der Organisation stehende Weltkirchenrat die Apartheid als »unchristlich« verurteilt hatte. Das brachte die Mär von den weißen Buren als auserwähltes Volk ins Wanken, auf der das System der regierenden National Party und der ihr nahestehenden niederländisch-reformierten Kirche religiös aufbaute.

Kritik auf internationaler Bühne

Tutu wurde in den Folgejahren zunächst zum Anhänger der Befreiungskirche und schließlich zum vollkommen unverblümten Kritiker des Apartheid-Regimes. Obwohl er selbst stets den Weg der Gewaltlosigkeit vertrat, erklärte er sein Verständnis dafür, dass unterdrückte Schwarze im Kampf gegen die Apartheid zu Gewalt griffen. Er trat offen für Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika ein, woraufhin das Regime ihm den Pass entzog. Kaum wieder im Besitz seines Dokuments, wetterte Tutu auf internationalen Reisen wieder gegen die Apartheid, was erneut zu Repressalien und Reiseverboten führte - eine Auseinandersetzung, die sich in den Folgejahren mehrfach wiederholte.

1988 nahm die Geheimpolizei ihn schließlich mit einer verdeckten Kampagne ins Visier. Tutus Frau Leah wurde inhaftiert, weil sie es versäumt hatte, die Zulassung ihres Autos fristgerecht zu verlängern. Gegen Tutu wurden Diffamierungen gestreut; das Regime bezahlte sogar arbeitslose Schwarze dafür, bei seiner Rückkehr von einer Auslandsreise am Flughafen gegen ihn zu protestieren. Allerdings konnten die Schergen des Regimes Tutu nicht foltern oder sogar töten wie zahllose andere Gegner. Dafür war Tutu - ab 1978 erster schwarzer Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrats und ab 1986 erster schwarzer Erzbischof von Kapstadt - international längst zu bekannt geworden.

Mit dem Kopf bis zur Besinnungslosigkeit gegen die Wand geschlagen, an den Genitalien verstümmelt oder vom Hochhausdach des Johannesburger Polizeihauptquartiers geworfen - das widerfuhr anderen. Als Desmond Tutu die Berichte der Opfer und Nachfahren vor der Wahrheitskommission hörte, konnte er seine Tränen mehr als einmal nicht zurückhalten. Sein Eintreten für faire Aufklärung, Vergebung und in der Konsequenz Amnestie für die Täter wurde davon dennoch nicht erschüttert.

Keine vollständige Aufklärung

Ihm deshalb die Straffreiheit der Foltermeister und ihrer Vorgesetzten oder gar die mangelnde Transformation der südafrikanischen Gesellschaft anzulasten, wäre aber falsch. Denn die Hauptverantwortlichen des Apartheid-Regimes weigerten sich ebenso wie die Entscheidungsträger der profitierenden Konzerne, überhaupt vor der Kommission auszusagen. Sie wären damit ein Fall für die Strafverfolgungsbehörden geworden, denn sie hatten ihre Chance auf Amnestie willentlich verwirkt.

Dazu jedoch fehlte innerhalb der ANC-Führung der politische Wille. Die von der Partei geführte Regierung setzte nicht einmal die im Abschlussbericht der Wahrheitskommission geforderten Entschädigungszahlungen für Apartheid-Opfer um. Ganz zu schweigen davon, dass sie freilich auch gegen kein einziges der Unternehmen vorging, die von der Unterdrückung der schwarzen Mehrheitsbevölkerung profitiert hatten. Weder gegen Firmen wie den Rheinmetall-Konzern, der trotz UN-Waffenembargo eine Munitionsabfüllanlage nach Südafrika lieferten. Auch nicht gegen zahlreiche internationale Banken, die an den hohen Zinsen verdienten, zu denen das abgewirtschaftete Regime zu Zeiten der Wirtschaftssanktionen Kredite aufnahm, die schließlich von der demokratischen Folgeregierung zurückgezahlt werden mussten. Die Totengräber einer gleichberechtigten Gesellschaft saßen und sitzen in diesen Institutionen. Desmond Tutu dagegen blieb bis zum Schluss ein Kämpfer für die Regenbogennation.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -