- Politik
- Corona-Proteste
Demonstrieren für Vernünftige
Sachsens Landtag debattiert über Versammlungsrecht / Landtagsabgeordnete: Linke in der Debatte zu leise
Es gebe in diesen Tagen viele Gründe, auf die Straße zu gehen, sagt Jule Nagel: Arbeitskämpfe; Proteste für ein besseres Gesundheitswesen und die soziale Bewältigung der Pandemie; den klimapolitischen Irrwitz wie das von der EU-Kommission geplante grüne Mäntelchen für die Atomkraft. Derlei Themen könnten Menschen zum Demonstrieren veranlassen - was in Sachsen aber derzeit unmöglich ist. Die aktuelle Corona-Notverordnung des Freistaats, die noch bis zum 9. Januar gilt, erlaubt nur »ortsfeste« Versammlungen mit bis zu zehn Teilnehmern. Nagel fordert, diese Beschränkung zu beenden: »Wer Grundrechte opfert, weil sie auch von Rechten wahrgenommen werden, wählt das falsche Mittel im Umgang mit Demokratiefeinden und schwächt vor allem die Vernünftigen, die Solidarischen und nicht zuletzt den demokratischen Meinungsstreit.«
Der weitere Umgang mit dem Versammlungsrecht sorgt in Sachsen derzeit für Debatten und am Mittwoch sogar für eine Sondersitzung des Landtags. Diese wurde von der AfD beantragt. Deren erklärtes Ziel ist es, die Aufzüge von Coronaleugnern und Impfgegnern - in der Darstellung der AfD Menschen, die »den Mut aufbringen, ihre Sorgen und Nöte gewaltfrei in die Öffentlichkeit zu tragen« - zu legalisieren und Konfrontationen zwischen diesen und der Polizei zu beenden.
Seit Wochen kommt es in ganz Sachsen zu Aufzügen, bei denen die zulässige Zahl an Teilnehmern meist deutlich übertroffen wird. Oft sind sie von Rechten organisiert, so zuletzt am Neujahrstag in Zwönitz. In der Kleinstadt, die seit Monaten Schauplatz solcher Demonstrationen ist und in der es in der Nacht zuvor eine Sprengstoffattacke auf das Wahlkreisbüro des CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz gegeben hatte, versammelten sich mehrere Hundert Menschen, teils mit Fackeln und hinter Transparenten mit Parolen der extrem rechten Identitären Bewegung. In diesem wie in vielen anderen Fällen griff die Polizei nicht ein. Nach einer Welle der Kritik suchte sie aber in der Vorweihnachtszeit teils Vorgaben durchzusetzen, stoppte Aufzüge und stellte Personalien fest, was Voraussetzung für Bußgeldbescheide über 250 Euro ist.
Die AfD fordert, diese »sich immer weiter ausweitende Eskalation sofort zu beenden«. Es müsse verhindert werden, dass die »massiven Grundrechtseinschränkungen« auch in der neuen Verordnung enthalten seien, sagte Fraktionschef Jörg Urban. Die Partei beruft sich auch auf entsprechende Äußerungen aus der Polizei. Hagen Husgen, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Sachsen, äußerte im MDR angesichts der »sich Woche für Woche wiederholenden und ausweitenden Versammlungslagen« und der Debatten um das Agieren der Polizei die Vermutung, diese würden »als Ersatz des politischen Meinungsstreits missbraucht«. Husgen plädierte dafür, wieder Versammlungen mit mehr als zehn Teilnehmern zu erlauben. Auch Landespolizeipräsident Horst Kretzschmar klagte in einem Interview über die hohe Belastung für die Polizei durch die Ahndung von Verstößen bei Protesten von Querdenkern.
Allerdings hätte die Polizei nicht weniger zu tun, wenn größere Demonstrationen wieder erlaubt würden, die gleichwohl strengen Hygieneauflagen folgen müssten, sagt Kerstin Köditz, Abgeordnete der Linksfraktion im Landtag. Die Teilnehmer der Coronaproteste scherten sich weder um Abstandsregeln noch um Vorgaben des Versammlungsrechts. Insofern sei das, was die AfD betreibe, eine »Scheindebatte«. Ihrem »Klientel«, das derzeit in Sachsen zu »Spaziergängen« aufrufe, sei es »ohnehin völlig egal, was in irgendwelchen Verordnungen steht«.
Damit aber verfehlten die aktuellen Reglementierungen für Versammlungen ohnehin ihr Ziel und träfen die Falschen, sagt ihre Fraktionskollegin Jule Nagel. Von einer Ausweitung der Demonstrationsmöglichkeiten würden nach Ansicht der Leipziger Politikerin »die Vernünftigen« profitieren, also jene, die »verantwortungsvoll mit der Gesundheit anderer umgehen, Masken tragen und auf Abstand achten«. Nagel sieht keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen konsequenter Pandemiebekämpfung und der uneingeschränkten Beibehaltung von Grundrechten. Sie betonte im Gespräch mit »nd«, die »dringend notwendige Gewährung der Versammlungsfreiheit« müsse »zwingend« mit strengen Hygieneauflagen einhergehen, die von Polizei und Ordnungsämtern dann konsequent durchzusetzen seien. Für diesen Weg hätten sich andere Bundesländer entschieden, etwa Brandenburg. Dort gibt es zwar ebenfalls eine Obergrenze für Versammlungen. Sie liegt mit 1000 aber hundertmal so hoch wie in Sachsen.
Ähnlich strikt wie in Sachsen sind die Regelungen nur in Thüringen. Dort lässt die aktuelle Corona-Verordnung nur »ortsfeste« Versammlungen mit maximal 35 Teilnehmern zu. Mitte Dezember gab es im Landtag dazu eine hitzige Debatte, in der es einerseits scharfe Kritik am Agieren der AfD gab. Diese agiere in der Pandemie als »Brandbeschleuniger«, sagte Katharina König-Preuss, Abgeordnete der Linken. Sie übte aber zugleich scharfe Kritik an der Begrenzung der Teilnehmerzahlen für Demonstrationen auf 35, die nach ihren Angaben vom Innenministerium verfügt und von den rot-grün-roten Koalitionsfraktionen nicht wirklich gebilligt werde. Die Obergrenze sei ein »fatales Signal«, weil es »am Ende nicht diejenigen trifft, die man treffen will«. Innenminister Georg Maier (SPD) signalisierte in der Debatte nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa seine Bereitschaft, über die Höchstzahl von Teilnehmern zu sprechen.
Generell, kritisiert Jule Nagel, äußere sich die Linke in den Parlamenten zu wenig zum Umgang mit den Grundrechten in der Pandemie. Die Partei bleibe »in der Debatte viel zu leise«. Sie beschränke sich weitgehend auf Kritik am zu zögerlichen Eingreifen der Polizei gegen Querdenker. Nagel hofft jetzt auf mehr: Demonstrationen sollen auch für Vernünftige wieder möglich sein.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.