- Kultur
- Poprevolution
Desillusionierung und Hoffnung
40 Jahre Poprevolution: 1982 gilt als magisches Musikjahr - eine Legende in drei Folgen. Zweiter Teil: Die Inszenierung von proletarischem Glamour
Bei »England« denken die meisten Menschen an London. An eine Weltstadt, deren Überfluss an Kultur, Konsum und Kulinarik einen mitreißt. Bereits im 18. Jahrhundert brachte es der Autor und Lexikograf Samuel Johnson auf den Punkt: »Wenn jemand Londons überdrüssig ist, ist er des Lebens überdrüssig; denn in London hat man alles, was das Leben bieten kann.«
Blondie: »Parallel Lines«
The Police: »Outlandos d’Amour«
Elvis Costello: »Armed Forces«
Joe Jackson: »Look Sharp!«
Kraftwerk: »Die Mensch-Maschine«
XTC: »Drums And Wires«
Madness: »One Step Beyond…«
The Cure: »Boys Don’t Cry«
Talking Heads: »Remain In Light«
Kim Wilde: »Kim Wilde«
Außerhalb von Greater London, das eine Fläche von 40 mal 40 Kilometern umfasst, sieht die Sache anders aus. Birmingham, die zweitgrößte Stadt Großbritanniens, auf dem Papier eine Millionenmetropole, hat das Flair von Gelsenkirchen. Und in den meisten anderen mittel- und nordenglischen Industriestädten sieht es ähnlich aus. Die schier endlosen Reihen von kohlestaubgefärbten Backsteinhäusern, an die sich die billig hochgezogenen Sozialwohnungen der 60er und frühen 70er Jahre anschließen, vermitteln ein Bild allumfassenden Trübsinns. Man versteht auf einmal, warum Menschen Drogen nehmen. Jedes Paralleluniversum ist besser als dieses versteinerte Grauen.
In solch urbanem Ödland wuchs Philip Oakey auf. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in der Autofabrikstadt Coventry, der Kohlestadt Birmingham und der Stahlstadt Sheffield. Einer seiner Klassenkameraden in Sheffield war ein gewisser Martyn Ware. Der hatte mit Ian Craig Marsh 1977 eine Band gegründet. Da man einen Sänger brauchte, heuerte man Philip Oakey an, der nur allzu gern seinen Job als Krankenhauspförtner aufgab.
Die Musik, die sie spielten, war elektronischer New Wave, der futuristisch, düster und kalt klang - Kraftwerk meets Industriestadt im Niedergang. Doch für die frühen Human League waren diese Klänge eine Art von Punk. Phil Oakey erinnert sich: »Wir dachten, wir wären die punkigste Band in Sheffield.« Der Erfolg war bescheiden; es reichte nur zum Geheimtipp. Ende 1980 stiegen Ware und Marsh aus und gründeten Heaven 17 (der Name war dem dystopischen Roman »Uhrwerk Orange« von Anthony Burgess entlehnt). Für Oakey schien damit das künstlerische Aus gekommen. Branchenkenner spotteten: »Die talentierten Leute sind weggegangen.«
Zu allem Unglück sollte er ohne sein musikalisches Rückgrat jetzt auch noch eine Tournee bestreiten. Auf der Suche nach einer Backgroundsängerin sah er in einer Diskothek zwei junge Frauen, die 17-jährige Susan Ann Sulley und ihre 18-jährige Freundin Joanne Catherall. Oakey, der sich eher ungelenk bewegte (»Sogar mein bester Freund sagt, dass ich beim Tanzen wie eine kranke Giraffe aussehe«), begeisterte sich für ihren Tanzstil. Doch gingen beide noch zur Schule. Oakey musste deren Eltern um Erlaubnis bitten, sie auf die Tournee mitnehmen zu dürfen. Und dann waren viele Zuschauer enttäuscht darüber, dass sie nicht wie erwartet die musikalischen Futuristen Ware und Marsh live erlebten, sondern zwei Schulmädchen, die nie zuvor professionell gesungen und getanzt hatten. Da flogen auch schon mal Gegenstände auf die Bühne. Die Presse verspottete »Oakey und seine Hupfdohlen«.
Doch waren es diese »dancing girls« Sulley und Catherall, die entscheidend zum Erfolg von Human League beitragen sollten. Die beiden verkörperten ein Selbstbewusstsein, das Heerscharen von Teenagerinnen unmittelbar berührte. Mit ihren abgeklärt und distanziert vorgetragenen Zeilen sprach Sulley in »Don’t You Want Me« einer gebeutelten Jugend aus der Seele: »Ich arbeitete als Bedienung in einer Cocktailbar, (…) aber schon damals wusste ich, dass ich etwas viel Besseres finden würde, ob mit dir oder ohne dich. (…) Ich liebe dich noch immer, doch nun ist es Zeit, mein eigenes Leben zu leben.« Die Verbindung aus Desillusionierung und Hoffnung traf den Nerv einer Generation, die trotz diverser Enttäuschungen daran glauben wollte, dass das Leben mehr zu bieten hatte als Aushilfsjobs und Arbeitslosigkeit. Der Song stieg in Großbritannien binnen fünf Wochen zur meistverkauften Single des Jahres 1981 auf.
Aber auch optisch setzten Oakey, Sulley und Catherall Signale. Glamour wird seit jeher als Privileg der »Upper Class«, der Oberschicht, empfunden. Es sind die Schönen und die Reichen, die sich Glamour leisten können, vom Champagner bis zum Designergewand. Den Arbeitern bleibt nur das Bier und der abgewetzte Sonntagsanzug von der Stange. Dem widersetzten sich Human League. Ihre Inszenierung stand für proletarischen Glamour. Für das Recht, die Schranken von Herkunft, Erziehung und Sozialisation zu überwinden und sich neu zu erfinden. Man konnte ein Schulmädchen aus Sheffield sein und trotzdem stolz auf der Bühne von »Top of the Pops« ein anderes Ich präsentieren.
Nicht jedem gefiel das. Rockkritiker - seit jeher die Lordsiegelbewahrer des Kulturjournalismus - bemängelten die »fehlende Authentizität«. In jenen Kreisen, in denen man das Hohelied auf »ehrliche Rockmusik« sang, wirkte Adornos Sinnspruch »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« ästhetisch noch immer nach. Sie, die Hippielinken, sahen in jedem Anzugträger eine Charaktermaske. Abendgarderobe galt als die Montur des verhassten Establishments.
Da gingen andere mit offeneren Augen durchs Leben. Dick Hebdige studierte am marxistisch geprägten Centre for Contemporary Cultural Studies (Zentrum für zeitgenössische Kulturstudien) in Birmingham, doch sein eigentliches Studium fand nach den Vorlesungen statt - in den Subkulturen der Stadt. Er nahm wahr, wie wichtig Kleidung und Make-up, Musik und Drogen für die Identitätsfindung waren. Mit seinem 1979 erschienenen Buch »Subculture: The Meaning of Style« zeigte er, dass Stil das Tor zu einer neuen aufregenden Welt war. 2015 beschrieb er dies so: »Man konnte sich ein bisschen verkleiden, verschiedene Looks ausprobieren und mit Leuten reden, die man sonst nicht unbedingt getroffen hätte, und Experimente starten. Subkultur war sowohl ein Freudenfest als auch eine Dekonstruktion des verklemmten Engländers und des männlichen Narzissmus.«
Denn Subkultur ist niemals statisch. In dem Maß, in dem sich der Mainstream wandelt, verändert sich auch die Subkultur. Dabei kommt es zu Um- und Neukodierungen von Kleidung und Musik. Ende der 60er war es Ausdruck von Protest gewesen, nicht länger Anzug und Schlips zu tragen - es begann die Zeit der Lederjacken und Jeans. Man ließ die Haare wachsen, rauchte selbst gedrehte Zigaretten und hörte Rockmusik. Und weil viele, sehr viele junge Menschen dies taten, wurde die Subkultur zum Mainstream, zum neuen Biedermeier.
Deshalb war es 1981 eine Provokation, dass eine Band wie Heaven 17, die sich explizit als links definierte, in Manageranzüge schlüpfte, die Haare gelte und Musik machte, die komplett auf rocktypische Attribute (leidenschaftliche Gitarrensolos, pathetische Gesänge, »echte Emotionen«) verzichtete. Kälte und Distanz statt gefühlsselige Betroffenheit. Die Poprevolution begann auf Permafrostboden. Und wie jede Revolution stieß sie bei den Herrschenden auf Gegenwehr. Der Song »(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang« von Heaven 17 löste unter Freunden der etablierten Rockmusik größtmögliche Ablehnung und Irritation aus. Linksradikale Gesinnung und schockgefrostete Diskothekenklänge, Antifaschismus und roboterhafte Stimmen - wie passte das zusammen?
Die Rockisten waren perplex. Diese Art der Inszenierung überforderte sie. Musik hatte gefälligst realistisch zu sein; sie sollte das trostlose wirkliche Leben widerspiegeln. Der Poplinke Diedrich Diederichsen, verabscheute diese Grundhaltung. In seinem Buch »Sexbeat« erzählt er 1985 vom neuen Lebensgefühl, das mit dem Punk Einzug hielt und das der Pop auf die Spitze trieb: »Natürlichkeits-, Echtheits- und Originalitätsvorstellungen waren uns so verhasst wie der heilige Ernst, die Unfähigkeit über Schatten zu springen.« Diederichsen, der erst als Redakteur bei »Sounds« und dann bei »Spex« arbeitete, distanziert sich in »Sexbeat« von jenen, »die von Musik eine direkte Verbindung mit dem Leben in all seiner existenziellen Traurigkeit verlangen. (…) Diese Idee von der Verdopplung der Tristesse durch triste Kunst führt direktemang in den Schwachsinn. Musik, die ein pubertäres Gefühl von Aussichtslosigkeit durch Reproduktion dieses Gefühls bestätigt, bewegt nichts«.
Der Sänger Nick Heyward und seine Londoner Band Haircut 100 bewegten eine Menge. Bei ihnen waren schon die Titel ihrer Singles Programm: »Fantastic Day«, »Love Plus One«, »Favourite Shirts (Boy Meets Girl)«. Ihr fröhlicher, von Bläsern befeuerter Gitarrenpop erzeugte eine Euphorie, die den größtmöglichen Gegensatz zur realen Welt der Jahre 1981/82 bildete. Hier gute Laune und Liebe, dort Rezession und Falklandkrieg. Eine »Popper-Band mit nichts als Sektblasen im Kopf« waren Haircut 100 dennoch nicht. In »Sounds« wies Diederichsen 1982 darauf hin, »dass einzelne Mitglieder jahrelang arbeitslos waren und zwei in besetzten Häusern leben«.
Die Unbeschwertheit und Sorglosigkeit, die Haircut 100 vermittelten, war hart erkämpft. Die Welt mochte schlecht sein, doch dies rechtfertigte noch lange keine schlechte Laune! Den Status quo beklagen, das konnte jeder. Heyward aber wollte geistreich sein, pfiffig: »Ich versuche Worte zu gebrauchen, die noch nie in Songs verwendet wurden. Ich habe noch nie das Wort ›Toblerone‹ in einem Liebeslied gehört, bevor ich es benutzt habe.« Das war lustig und unterschied die Haircut-Strahlejungs von all den ernsten New- Wave-Bands, die als gesellschaftspolitische Mahner auftraten. Bloß nicht werden wie Paul Weller, der Sänger von The Jam!
Denn wer sich wie Weller auf das Niveau sozialdemokratisch gefärbter Gesellschaftskritik der Labour Party herabließ, hatte für Heyward verloren. Der war Teil eines Systems geworden, das Kritik um der Kritik willen honorierte. Die Presse erwartete schließlich von Rockmusikern, dass sie ihr politisches Bewusstsein dokumentierten, indem sie Missstände (wie den Hunger in der Welt oder das Wettrüsten) mit ernster Miene anprangerten. Haircut 100 spielten das vorhersehbare Spiel nicht mit. »Nur weil wir nicht explizit Stellung nehmen, wie die Medien sich das vorstellen, sind wir nicht politisch blöd oder blind«, stellte Heyward klar. Martin Fry von ABC und Gary Kemp von Spandau Ballet hätten ihm sofort beigepflichtet.
Sogar Paul Weller hätte ihm recht gegeben. Der erfand sich nach der Auflösung von The Jam 1982 neu. In dem Keyboarder Mick Talbot (einem der 33 Musiker, die Kevin Rowland bei Dexys Midnight Runners rausgeekelt hatte) fand er einen musikalischen Partner, mit dem er seine Vorstellungen von Jazz, Soul und Pop umsetzen konnte. Doch das entscheidende Einstellungskriterium war für Weller ein anderes: »Er teilt meinen Hass auf den Rockmythos und die Rockkultur.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.