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Fit bis zum Exzess
Sportsucht gefährdet Menschen mit wenig Selbstbewusstsein und einem Hang zum Perfektionismus
Eigentlich ist Sport eine gesunde Betätigung, die Spaß macht und entspannt. Wenn Mediziner von den positiven Auswirkungen berichten, finden sie kaum ein Ende. Wer aber so exzessiv Sport treibt, dass er nicht mehr aufhören kann, schadet seinem Körper - unter Umständen sogar massiv. So ging es der Autorin und Bloggerin Yavi Hameister: »Ich laufe in den Park, die gleiche Strecke wie jeden Tag seit vielen, vielen Wochen. Der Schmerz kribbelt in meinem Schienbein, noch bevor ich den ersten Kilometer geschafft habe. Ich kenne dieses brennende, fast unerträgliche Gefühl zu gut; es ist immer da, wenn ich laufe. Doch ich darf nicht abbrechen (...) Ich muss mindestens 600 Kalorien verbrennen, bevor ich nach Hause gehe. Also läuft der Schmerz mit. Jeden Tag.« Diese Anfangspassage aus Hameisters Buch »Bis es wehtut« zeigt, wozu exzessives Sporttreiben führen kann: nämlich dazu, die Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Bei der Autorin rührte der Schmerz von einer chronischen Knochenhautentzündung im Schienbein, zu der es durch Überlastung gekommen war.
»Körperliche Signale wie Schmerz zu ignorieren, ist ein Indiz für Sportsucht«, berichtet der Sportpsychologe Heiko Ziemainz von der Uni Erlangen-Nürnberg. »Im Einzelfall kann es dazu kommen, dass sich jemand die Ferse bis auf den Knochen durchläuft.« Für Menschen, die so stark übertreiben, ist Sport das Gegenteil von Vergnügen: Sie arbeiten zähneknirschend ein Programm ab, um Entzugserscheinungen zu vermeiden und sich nicht schlecht zu fühlen.
- Training ist das Wichtigste in meinem Leben.
- Ich nutze Training als einen Weg, um meine Stimmung zu ändern (etwa um mich abzureagieren).
- Mit der Zeit habe ich das Pensum meines täglichen Trainings erhöht.
- Es gab bereits Konflikte zwischen mir und meiner Familie wegen des Trainingspensums.
- Wenn ich ein Training ausfallen lassen muss, fühle ich mich launisch und gereizt.
- Wenn ich den Umfang meines Trainings reduziere und dann wieder beginne, ende ich immer wieder beim ursprünglichen Umfang. ast
Weitere Informationen: https://www.arztphobie.com/psychologie/sucht/sportsucht
»Wie Alkoholiker, die ihren Stoff nicht bekommen, können sie sonst aggressiv werden«, sagt Ziemainz. So wird Trainieren zur Zwangshandlung, der die Betroffenen immer stärker verfallen - mit der Folge, dass häufig Familie und Freunde vernachlässigt werden. Gefährdet sind tendenziell Menschen, die wenig Selbstbewusstsein haben und zu Perfektionismus neigen, wie der Psychologe erklärt.
Wird Sport nur um seiner selbst willen getrieben, handelt es sich um eine primäre Sportsucht, die Ziemainz zufolge eher selten vorkommt. Sehr viel häufiger ist die sekundäre Sportsucht, die zusammen mit weiteren Problemen - vor allem Essstörungen - auftritt. Dabei wird Sport instrumentalisiert, um Ziele wie Gewichtsabnahme zu erreichen. Eine weitere Störung ist die Muskeldysmorphie, bei der sich die Betroffenen, meist jüngere Männer, intensiv mit ihrem Aussehen und Muskelaufbau beschäftigen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phänomenen sind allerdings fließend.
Genaue Angaben dazu, wie häufig Sportsucht vorkommt, gibt es nicht. Das liegt schon daran, dass sie nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt ist, sondern allgemein zu den stoffungebundenen Verhaltenssüchten zählt. »Man kann sagen, dass etwa jeder hundertste Sportler erste Auffälligkeiten zeigt«, schätzt die Sportpsychologin Jana Strahler von der Uni Freiburg. »Wirklich behandlungsbedürftig ist aber wahrscheinlich nur jeder Zehntausendste.«
Ebenfalls offen ist, ob das Phänomen zunimmt. Befragungen von Wettkampf- und Hobbyläuferinnen durch die Uni Leipzig haben ergeben, dass die Bindung an den Sport während der Coronakrise eher abgenommen hat. »Das Ergebnis hat auch uns überrascht«, sagt Nadja Walter, Sportpsychologin an der Leipziger Universität. »Wahrscheinlich liegt es daran, dass in dieser Zeit andere Dinge in den Vordergrund gerückt sind - Homeoffice, Kinderbetreuung und die Sorge um die Gesundheit.«
Landläufig wird Sportsucht gern damit erklärt, dass Betroffene von den Glückshormonen abhängig werden, die der Körper beim Training ausschüttet. Der Zusammenhang ist aber unklar. »Ob es beim normalen Sporttreiben überhaupt zu einer nennenswerten Ausschüttung von Neurotransmittern kommt, ist fraglich. Da braucht es schon einen Marathon«, sagt Jana Strahler. »Klar ist aber, dass Sport angstlösend und antidepressiv wirkt.«
Ebendiese Wirkung machen sich manche Betroffene offenbar gezielt zunutze. Dafür spricht jedenfalls eine Studie des Karlsruher Instituts für Technologie und der Universität Freiburg, die elektronische Tagebücher essgestörter Patientinnen mit denen gesunder Teilnehmerinnen verglich. Demnach trieben Patientinnen gezielt Sport, um aus Stimmungstiefs zu kommen. Auch diese Strategie, schreiben die Studienautoren, kann in einen Teufelskreis führen: nämlich dann, wenn man immer mehr Sport treiben muss, um sich gut zu fühlen.
Daneben gibt es viele weitere Gründe, aus denen sich eine Sportsucht entwickeln kann. »Zum Beispiel ist soziale Anerkennung eine Belohnung für Sporttreibende, die zu einer Verhaltensverstärkung führen kann«, sagt die Leipziger Sportpsychologin Walter. Neben den sozialen Medien, über die bestimmte Schönheitsideale verbreitet werden, spiele oft der Freundeskreis eine besondere Rolle. »Manche Betroffene bewegen sich in ›In-Groups‹, in denen nur über Sport, Trainingsfortschritte und Ernährung kommuniziert wird.« Ob sie primär sportsüchtig seien, zusätzlich ein essgestörtes Verhalten oder gar eine manifeste Essstörung zeigten, lasse sich oft schwer sagen. »Es gibt keine exakte Diagnostik. Außerdem fehlt es an Therapeuten, die auf Essstörungen und Sportpsychologie spezialisiert sind«, sagt Walter.
Wichtig ist, eine beginnende Sportsucht möglichst früh zu behandeln. »Ansprechpartner kann zunächst der Hausarzt sein«, sagt Heiko Ziemainz. »Ansonsten ist man bei einem Psychologen oder Psychotherapeuten gut aufgehoben, der auf Verhaltenssüchte spezialisiert ist.« Die Behandlung läuft in der Regel auf eine kognitive Verhaltenstherapie hinaus. Aber wer braucht wirklich eine Therapie? Auch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Die Freiburger Sportpsychologin Jana Strahler erklärt: »Entscheidend ist der Leidensdruck.« Eine Behandlung setzt auch voraus, dass die Betroffenen einsichtig sind.
Wie bei anderen Süchten kann der wohlgemeinte Rat von Freunden oder Angehörigen nichts ausrichten. Manchmal reicht auch eine Beratung, um gefährdete Sportler auf den richtigen Weg zu bringen. »Auch Wissensvermittlung kann helfen. Zum Beispiel der Hinweis darauf, dass Muskelwachstum nicht beim Training, sondern in den Regenerationsphasen stattfindet«, sagt Strahler.
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