Die Stadt mit den »zwei« Oberbürgermeistern

Politischer Spätstarter erweckt Jena-Neulobeda aus dem Nachwendeschlaf. Tiefgaragen, Open-Air-Opern und neue Plattenbauzuschnitte gehören zu seinen Aufgaben im Stadtteil

Ich bin mit 26000 Neulobedaern per Du und wenn mich zehn mit Sie anreden, mache ich was falsch«, meint Volker Blumentritt. Der gelernte Koch, der sein Geld als Betriebsrat bei der Mitropa verdient, ist in Jenas größtem Stadtteil bekannt wie ein bunter Hund. Drei Mal die Woche hält er Sprechstunden ab; sechs, sieben Stunden am Tag kümmert er sich nur um Ortsbelange. Kein Wunder, dass sein Konterfei häufiger in den beiden Regionalblättern auftaucht, als das manches Rathausdezernten. Dabei ist der 55-Jährige nicht nur Quer-, sondern auch Späteinsteiger. Erst 1997 sagte er sich, du kannst nicht länger zusehen, wie es mit deiner Plattenbausiedlung bergab geht. »Immerhin lebt hier jeder vierte Jenaer«, so Blumentritt. Dennoch habe Neulobeda im öffentlichen Bewusstsein der Kommune seit 1990 kaum eine Rolle gespielt. Er zeigt auf drei pralle Aktenordner mit Presseartikeln seit 1998 nur über seinen Stadtteil. »Davor waren es seit 1990 kaum dreißig Notizen«, erzählt er. Und die Journalisten kommen auch gern. Denn sie finden hier nicht nur ständig Stoff zum Berichten, auch die Abo-Zahlen in den Plattenbauten wuchsen, als die Leute merkten, dass auch ihre Probleme wieder in der Zeitung stattfinden. Begonnen hatte alles 1997, als sich der bis dato Parteilose entschloss, in die SPD einzutreten. Aber wenn schon, so sagte er sich, dann nicht ins dritte Glied. Doch da es die Posten, die ihm vorschwebten, noch gar nicht gab, musste er sie sich quasi erst selbst schaffen. Zunächst den des Ortsvereinschefs von Jena-Lobeda. Blumentritt brachte beide SPD-Ortsvereine unter einen Hut und bekam diesen dann auch gleich auf. Und kurz darauf trat er eine öffentliche Diskussion los: Neulobeda, einwohnermäßig größer als manche Kreisstadt, war im Jenaer Parlament nur mit zwei Stadträten vertreten. Und so kürten, parallel zur Bundestagswahl, die Neulobedaer Blumentritt erstmals zum Stadtteilchef. Auch CDU und Grüne sprangen schnell noch mit Kandidaten auf den anrollenden Zug, während die PDS auf einen eigenen Bewerber verzichtete. Ein Dreivierteljahr später, zur Kommunalwahl, zog Blumentritt mit dem Rückhalt von fast 3000 Stimmen auch in den Stadtrat ein. »Mittlerweile werde ich von den Behörden um Rat gefragt, wenn es um Neulobeda geht, und gegen uns kommunale Basisvertreter lässt sich nichts mehr durchsetzen«, ist er sicher. Als erstes mahnten sie erfolgreich den Abriss von Industriebrachen an. Dann entstanden in Lobeda-Ost neue Supermärkte, »damit die Bewohner nicht mehr wegen einem Stück Butter mit der Straßenbahn fahren müssen«. In allen Wohnquartieren setzten sie »Tempo 30« und zugleich ein Parkraumkonzept durch. Im Ortschaftsrat selbst gab er übrigens eine strikte Parteineutralität aus: »Da draußen steht ein Schrank, dort könnt ihr alle eure Parteibücher reinlegen. Meines liegt schon drin«, forderte er zu Beginn der ersten Tagung von seinen zehn Mitstreitern. Mit je drei Sitzen sind PDS, SPD und CDU übrigens recht paritätisch vertreten. Erstmals seit der Wende bekam die Neubaustadt 2000 auch wieder einen großen Weihnachtsbaum. »Das hat mir mehr Lorbeeren eingebracht als ein neuer Fußweg«, beobachtet der OB. In den Supermärkten des Stadtteils trieb er hierfür Sponsoren auf. Auch das sei für ihn ein Mosaikstein in Sachen »Soziale Stadt«. Zuvor erfuhren schon im Rahmen des gleichnamigen Bundesprogramms mehrere Neulobedaer Straßenzüge eine Aufwertung. Neue Erlebnisquartiere entstanden, teils auch um den Preis des Abrisses überzähliger Wohnblöcke. Heute liegt die Leerstandsquote bei zehn Prozent. Vorzeigbar ist nicht zuletzt die Saaleaue. Der einstige Unkrautacker empfiehlt sich nun als Freizeitrefugium mit sommerlichen Open-Air-Opern. »Mitten im Plattenbaugebiet, wo gibt's das sonst?«, fragt der Stadtteilchef. Im Sommer lud der Ortschaftsrat erstmals auch zu einer unkonventionellen Planungswerkstatt ein. »In drei Arbeitsgruppen machten wir uns hier mit Experten detailliert Gedanken, welche Strukturen wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln wollen«, so Blumentritt. Die Leute wollten halt wissen: »Kaufe ich mir eine neue Küche oder steht mein Haus in fünf Jahren nicht mehr? Wird es saniert oder erhält es einen neuen Zuschnitt?« Einen Anstoß erwartet der Ortschaftsrat zudem von zwei Großprojekten in Neulobeda: das neue Uni-Klinikum sowie die Umgestaltung der Autobahn. Wegen des Lärmschutzes für Anwohner wie Patienten wird die Piste, über die täglich 65000 Fahrzeuge in unmittelbarer Wohngebietsnähe düsen, teils tiefergelegt, teils mit einem begrünten Deckel eingehaust. Das entsprechende Modell für das Millionenvorhaben steht übrigens auch nicht im Rathaus, sondern in Blumentritts Stadtteilzentrum. »Vehement fordern die Bewohner zudem ein modernes Sport- und Freizeitzentrum«, erzählt er. Ein solches sollte längst entstehen; die Fläche ist reserviert. Aber potenzielle Investoren fürchten immer wieder um die spätere Auslastung. So will er nun als Bauherrn einen Interessentenpool installieren, in den sich alle einbringen sollen, deren wirtschaftliche Perspektive von der Vitalität des Viertels abhängt. Blumentritt weiß, dass er sich mit seinem unkonventionellen Vorpreschen bei Behörden und Berufspolitikern nicht nur beliebt macht. »Sicher, manchmal überschreite ich meine Kompetenzen«, räumt er ein. Doch wenn er das in den letzten drei Jahren nicht getan hätte, wäre er jetzt nicht so weit, ist er überzeugt. Und ein wenig schadenfroh fügt er hinzu: »Ich kann halt auch mal die große Fresse haben. Niemand im Rathaus darf mich aushebeln. Das steht nur den 26000 Lobedaern zu.« Dabei arbeitet er auch nicht ganz uneitel an seinem Image. Allerlei SPD-Prominenz lockte er bereits zu Bürgerforen in den Stadtteil: Franz Müntefering, Anke Fuchs, Rolf Schwanitz, Regine Hildebrandt... Gerade sagte Kurt Bodewig zu, und auch Gerhard Schröder soll zur Sommertour 2002 hier Station machen. »Und alle kommen sie nicht nach Jena, sondern nach Neulobeda«, kokettiert Blumentritt. Den Kanzler hatte er sich schon zum Verbündeten gemacht, als es um 300000 Quadratmeter Gewerbefläche direkt an der Autobahn ging. Einst von der Holzmann AG gekauft, lag sie seit Jahren brach. »So schrieb ich im März an Schröder und fragte ihn als "Holzmann-Retter", ob es nun sein könne, dass solche vom Bund geförderten Flächen für Spekulationen genutzt werden?«, erzählt er. Schon acht Tage später traf die Antwort ein mit dem Vorschlag, alle Entscheider in dieser Sache an einen Runden Tisch zu holen. »Und sie kamen auch alle im Mai. Da saßen dann mir mit meinen 800 Mark Ehrenamtszuschuss mehrere Millionen Mark Jahresgehalt gegenüber...«, erinnert er sich. Doch als er die Tafel auflöste, hatte er sie alle gewonnen: Inzwischen wurde eine Projekt GmbH aus Holzmann, Jenoptik-Bau und Stadt gebildet, die sich der Vermarktung der Fläche annehmen soll. »Darauf bin ich richtig stolz, auch wenn dies eigentlich der OB hätte machen müssen«, meint er selbstbewusst. Aber auch so kursiert in Jena längst das Bonmot von der Stadt mit den zwei OB - Oberbürgermeister Dr. Peter Röhling...

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