Die Kaufkraft schwindet

Auch dieses Jahr werden die Reallöhne laut Prognosen vermutlich sinken – trotz Warnungen vor einer Lohn-Preis-Spirale

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Es geht derzeit ein Gespenst um in Deutschlands Wirtschaftsredaktionen: Angesichts einer Inflationsrate von 3,1 im vergangenen Jahr, wie sie das Statistische Bundesamt vergangenen Donnerstag mitteilte, werden Stimmen lauter, die vor der angeblichen Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale warnen. Denn es ist die höchste Teuerungsrate seit fast 30 Jahren. Die Gewerkschaften könnten nun höhere Löhne fordern, die Unternehmen diese wieder über höhere Preise an die Kunden weitergeben. So könnte ein Teufelskreis aus steigenden Preisen und Löhnen in Gang gesetzt werden, wird gemahnt.

In dieses Szenario passt eine Zahl, die das Münchner Ifo-Institut letzte Woche herausgab: Demnach werden die Löhne und Gehälter dieses Jahr voraussichtlich im Schnitt um 4,7 Prozent steigen. Im Dienstleistungsbereich könnten es sogar 5,8 Prozent werden. Dies ergab eine Ifo-Umfrage unter knapp 630 Personalverantwortlichen. Die Unternehmen rechnen also mit steigenden Personalkosten.

Doch muss man sich solche Zahlen genauer anschauen. Sie bedeuten nicht automatisch, dass die Angestellten am Ende des Jahres mehr Kaufkraft haben.

Da wäre zunächst die Lohnentwicklung im vorigen Jahr. Die fiel – gelinde gesagt – für die Beschäftigten sehr mau aus. Die Tarifverdienste seien nach vorläufigen Berechnungen im Schnitt um 1,3 Prozent gestiegen, teilte das Statistische Bundesamt kurz vor Jahresende mit. Dies wäre der geringste Anstieg der Tarifverdienste seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2010. Bei einer Inflationsrate von rund drei Prozent bedeutet das für Beschäftigte unterm Strich einen deutlichen Reallohnverlust.

So war Verdi-Chef Frank Werneke Ende November nicht sonderlich glücklich über das Tarifergebnis für die Beschäftigten der Bundesländer. Es seien »echt zähe und schwierige Verhandlungen« gewesen, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende über die Verhandlungen mit der Tarifgemeinschaft der Länder, »mit Arbeitgebern, die nichts an Zuwendung und Empathie haben spüren lassen«. So gab es statt der geforderten fünf Prozent nur eine Coronaprämie sowie 2,8 Prozent – und Letzteres erst ab Dezember 2022. Auch in der Metall- und Elektroindustrie erkämpfte die IG Metall für 2021 lediglich eine Prämie.

Dass dieses Jahr die Gehälter wieder stärker steigen werden, ist zudem für Alexander Herzog-Stein vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nichts Ungewöhnliches. »Das ist ein klassischer Erholungseffekt nach einer Krise«, sagt der Arbeitsmarktexperte »nd.derTag«. Sein Institut geht ebenfalls von einem kräftigen Wachstum der Bruttolöhne und -gehälter aus. Es prognostiziert 4,8 Prozent und liegt damit auf dem ersten Blick sehr nah an der Einschätzung des Ifo-Instituts.

Von einem »sprunghaften Anstieg« der Gehälter will Herzog-Stein dennoch nicht reden. Verantwortlich für die prognostizierten 4,8 Prozent werden nicht nur eigentliche Lohnsteigerungen sein. Es gibt auch noch eine andere Erklärung: »Das Arbeitsvolumen wird zunehmen. Die Menschen werden wieder mehr arbeiten«, erklärt der Ökonom. »Und wer mehr arbeitet, dem wird auch mehr bezahlt.« Folglich werden die Menschen dieses Jahr auch am Ende des Monats wieder mehr Gehalt haben.

So war 2021 von vermehrter Kurzarbeit geprägt. Nachdem zu Jahresbeginn wegen der Kontaktbeschränkungen viele Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden, merkte später die Industrie die Engpässe bei den Lieferketten. Besonders die Autobranche spürte das. Das IMK schätzt, dass wegen der Lieferketten-Probleme ein- bis eineinhalb Millionen Autos in Deutschland nicht gebaut wurden. Mit Folgen für den Arbeitsmarkt: 2021 waren im Jahresdurchschnitt immer noch 1,85 Millionen Menschen in Kurzarbeit.

»Wir gehen davon aus, dass die Kurzarbeit dieses Jahr zurückgehen wird. Dadurch werden die Unternehmen wieder mehr produzieren und auch wieder mehr Löhne und Gehälter zahlen müssen«, sagt Arbeitsmarktexperte Herzog-Stein.

Ihm zufolge macht der Anstieg des Arbeitsvolumens rund die Hälfte der prognostizierten 4,8 Prozent Lohnsteigerung aus. Weil nicht nur die Kurzarbeit zurückgeht, sondern auch die Beschäftigung steigt, also mehr Menschen eine bezahlte Arbeit haben werden, kommen von den 4,8 Prozent bei jedem Beschäftigten im Schnitt lediglich 3,7 Prozent an. So werden die Zuwächse für die einzelnen Beschäftigten kleiner.

Denn das IMK sagt voraus, dass die gesamte Bruttolohnsumme hierzulande in diesem Jahr um 4,8 Prozent steigt, nicht etwa die Stundenverdienste oder die Erwerbseinkommen pro Kopf. Auch beim Ifo-Institut beziehen sich die 4,7 Prozent geschätztes Wachstum nicht auf das individuelle Plus. »Wie werden sich die Löhne insgesamt im Betrieb verändern?«, wurden die Unternehmen gefragt.

Laut IMK werden die Tariflöhne auf Stundenbasis nur um 2,3 Prozent wachsen. »Dies bedeutet gesamtwirtschaftlich moderate Lohnsteigerungen und keinesfalls eine Lohn-Preis-Spirale«, so Herzog-Stein. Auch geht sein Institut nicht davon aus, dass die Angestellten in individuellen Verhandlungen sonderlich mehr Gehalt herausschlagen werden. Dieses Phänomen kommt in Aufschwungphasen durchaus vor und wird als Lohndrift bezeichnet. Da die sogenannten Effektivverdienste auf Stundenbasis aber ebenfalls um voraussichtlich 2,3 Prozent steigen werden, geht das IMK davon aus, dass es dieses Jahr zu keinem Lohndrift kommen wird.

Geht man wie das IMK davon aus, dass die Inflationsrate dieses Jahr bei 2,6 Prozent liegen wird, bedeutet das unterm Strich wieder einen Reallohnverlust für die Beschäftigten.

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