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Solidarität, Opfer, Moral
Begriffsloser Aktivismus: In der Nahost-Debatte ähneln sich hierzulande die Argumente beider Seiten
In regelmäßigen Abständen kommt es hierzulande zur immer gleichen Nahost-Debatte mit den immer gleichen Argumenten und Positionen. Auch die aktuelle Aufregung über Emma Watsons als antisemitisch betitelten Aufruf zur Solidarität mit den Palästinensern auf Instagram zeigt, wie die üblichen Reflexe aktiviert werden. Auf beiden Seiten hat man sich wie erwartet positioniert - was zudem in 99 Prozent der Fälle politisch folgenlos bleibt.
»Islamkritik ist kein Rassismus« heißt es etwa beim »BAK Schalom« - »Israelkritik ist kein Antisemitismus« hingegen bei dessen Gegnern. Das mag beides stimmen, nur sind solche Postulierungen wertlos, wenn es ohnehin sowohl von Antisemitismus wie von Rassismus jeweils circa 17 unterschiedliche Definitionen gibt. Beide Seiten merken außerdem nicht, dass sie sich hier gegenseitig nur zufällige Moral-Anforderungen unterjubeln: Zu behaupten, irgendeine Kritik sei moralisch gerechtfertigt, bedeutet eben noch lange nicht, dass man damit schon bestimmt hätte, worin nun das Kritikwürdige liegt. Die Vorwürfe also bleiben vorbegrifflich.
Auf beiden Seiten geht es es daher um Opfer, denn die lassen sich überall und ständig finden. So vermögen auch die meisten mit Israel solidarischen Deutschen den jüdischen Staat nicht anders zu verteidigen, als dass sie auf eine Opfer-Identität ihrer Schützlinge verweisen. Das allein ist schon indiskutabel an ihrer Positionierung, die hier sachliche Erörterung und begriffliche Bestimmung ersetzt. Als vernünftiger Mensch, der in seinem Leben auch nur zwei, drei Gedankengänge zu Ende vollzogen hat, macht man so was nicht: eine Sache verteidigen, weil sie Sache von Opfern sei. Solches Vorgehen führt in der bürgerlichen Öffentlichkeit dazu, dass jede Diskussion zu einem Konkurrenzgebaren verschiedener Opferstämme wird, in der jedem, der auf Distanz zu den Empörungsgesten geht und die Sachlage zu erörtern versucht, sofort eine Menschenfeindlichkeit unterstellt wird, die nicht genügend Empathie mit jenen Opfern zeige. Es sollte aber nicht aufs Zeigen, aufs bloße Präsentieren von moralisch einwandfreiem Gewissen ankommen: Für jeden denkenden Menschen ist solche Opfer-Argumentation als Irrtum zu erkennen, weil sie die eigenen Ziele konterkariert. Wer bloß mit einem Opfer-Status argumentiert, will Mitleid erzeugen und nicht die Erkenntnis fördern. Er provoziert Ressentiments, nicht Einsicht.
So tritt auf beiden Seiten der Nahost-Debatte ein identitärer Aktivismus zutage, indem die Protagonisten lediglich als Promotion-Agenturen für eine spezifische Richtung einer als Kritik kostümierten Weltanschauung agieren. Es handelt sich um Leute, denen es nicht um die Sache selbst geht, sondern um Reklame für ihr jeweiliges partikulares ideologisches Programm, für eine sich als bedenklich und wissenschaftlich ausgebende Milieu-Moral, die den schlimmsten Feind ganz entschieden immer schon längst ausgemacht hat - und zwar auf der jeweils anderen Seite, die »den (sozialen) Frieden« gefährde, »die Gesellschaft« spalte, »den Hass« schüre, »die Gewaltspirale« vorantreibe und wie die larmoyanten Moralitätsetiketten der paternalistischen Diskursbetreuer noch so heißen mögen.
Die einen haben Antisemiten, die anderen Rassisten zu sein, dazwischen soll es nichts mehr geben: Wer sich um Vernunft, Wahrheitsfindung bemüht, wird dennoch einer der beiden Parteien zugeordnet, es hilft nichts. Deshalb muss zunächst, vor jeder sachlichen Erörterung der politischen Inhalte des Konflikts selbst, der Maßstabslosigkeit dieser beiden Parteien entgegengetreten werden.
Man verteidigt eine Sache, und erst recht ein in sich so widersprüchliches Gebilde wie einen Staat nicht, indem man sich mit ihm billig »uneingeschränkt solidarisch« erklärt oder seine Bewohner und Anhänger allesamt zu Opfern macht. Man verteidigt eine Einrichtung, einen Staat, auf qualifizierte Weise; man verweist auf höhere zivilisatorische Standards: auf sittlichere Gepflogenheiten seines Gemeinwesens, auf bessere Lebensbedingungen für die Mehrheit, auf den höheren Stand der ökonomischen Gleichgestelltheit seiner Mitglieder, auf die Tugend seiner politischen und weltanschaulichen Tradition, auf sein Vermögen, die Probleme seiner Bürger zu lösen und diese zu befähigen, eine selbstbestimmte Existenz zu führen, kurzum: auf den erreichten Stand seiner Produktivkräfte, auf die Wohlgeordnetheit der Arbeitsverhältnisse, seine Verfasstheit im Sinne eines Staatshumanismus.
Man verteidigt ihn nicht, indem man behauptet, seine Politik sei dadurch gerechtfertigt, dass seine Bevölkerung aus Opfern bestehe. Diese Argumentation aber eint die Solidarischen auf beiden Seiten im Nahost-Streit: Sie teilen dieselbe Denkform, die sich um die wirklichen Vorgänge längst nicht mehr schert; sie wollen nur noch ihr Meinungsfähnchen in einer zur Kalenderspruchparade heruntergekommenen Medien-Öffentlichkeit schwenken.
Man argumentiert als redlicher Mensch, dem es mit politischer Aufklärung ernst ist, nicht damit, dass Bomben fallen oder Kinder sterben, sondern man schaut sich an, wozu Kriege geführt werden, wer zu welchem Zweck wen angreift und wer sich wogegen verteidigt.
Wenn kindische Demonstranten geifern und skandieren, ist das das eine. Wenn aber vorgebliche Materialisten und Linke, die behaupten, sie hätten einen Begriff von Ideologie, sich auf diese Weise gehen lassen, zeigt das nur, wie wenig Interesse sie in Wahrheit an den wirklichen Verhältnissen haben.
Der Nahost-Konflikt wie der durch ihn beflügelte Diskurs-Konflikt in Deutschland zeigen einmal mehr, dass es für beide Seiten unangenehm ist, wenn die durch Irrationalität getrübte Welterfassung qua ideologischem Meinungsgeblödel an ihre Grenzen stößt und sich die Realität Bahn bricht. Es ist ungemütlich, weil das Verdrängen von Realem immer Stress bedeutet und in einer Situation des offenen Austragens eines sonst nur schwelenden Streits das Verdrängen und damit die Anspannung zunehmen. Die Einsicht in Wirkliches also soll verhindert werden - der einmal festgelegten Meinung zuliebe. Solche Argumentation macht beide Parteien zu einer Partei, derweil sie glauben, sie seien sich spinnefeind. Ihre Inhalte sind austauschbar, weil es auf diese nicht ankommt, weil sie bloß aus zufälligen, also aus dem Gesamtzusammenhang herausgebrochenen Fakten bestehen.
Da die Realität eben keine Erzählung ist, kein Ding, das sich in ein einfaches, längst verinnerlichtes Schema (zum Beispiel Opfer-Ideologie) pressen lässt, bedeutet das für die deutsche Nahost-Debatte: Beide entgegengesetzten Positionen sind falsch, wenn sie versuchen, sich durch Opfer-Narrative zu legitimieren, und es nicht um objektive, wissenschaftliche Beschreibung der Realität geht. Aber das Reden über die Wirklichkeit tendiert im Sozialen (und damit in den sozialen Medien) zum Personifizierungsgehabe. Es ist die Klatsch-und-Tratsch-Kultur, für deren Teilnehmer das erste Bedürfnis nie die Wahrheit ist, sondern die Erlangung von Wertschätzung ihrer Ressentiments durch andere an dieser Szene Beteiligten. Je weniger jemand in der Sache überzeugen kann, desto stärker der Rückgriff auf den eigenen sozialen Status, auf eine bloße Positionierung.
Daher ist es beim Nahost-Konflikt auch so einfach, die Position komplett zu wechseln, wie das unter Linken so häufig vorkommt: Beide Begründungsweisen haben etwas für sich, eben weil sie mit Erfahrungen, Emotionen und Fiktionen ausgeschmückte Realität sind - oder zutreffender: mit Realitätsfragmenten ausgeschmückte Subjektivismen, Fiktionen, Gefühle, Moralitätsanforderungen. Es geht um die Attraktivität dieser emotionalen Begründungsweise selbst, nicht um den objektiven Wirklichkeitsgehalt, der mit dieser nur noch so nebenbei mitgeschleppt wird. Diese moralisch-empöristische Begründungsform ist so etwas wie der Tauschwert auf dem Meinungsmarkt. Der Gebrauchswert hingegen, der ein inhaltlicher wäre, ist innerhalb des Produktionsprozesses des kapitalistischen Meinungsmarktes irrelevant geworden.
Wie im Kapitalismus ein Paar Schuhe für den Konsumenten begehrenswerter wird, wenn es teurer ist (also einen größeren Tauschwert besitzt), selbst wenn er es nicht nutzen kann, weil es nicht seine Größe hat (der Gebrauchswert also bei null liegt) - da er es zumindest potenziell weiterverkaufen und sich mit dem dadurch erlangten Geld mehr als bloß das passende Paar Schuhe kaufen kann -, so verhält es sich auch mit den Meinungen und Positionierungen: Weil es sich bei deren Trägern zum Großteil um Konsumenten, nicht um Produzenten handelt, geht es nur noch darum, wie hoch sich der Tauschwert einer vertretenen Meinung in einem bestimmten Milieu bemisst - unabhängig vom Gebrauchswert, also dem, was sie über die Realität aussagt. Daher ist es für sie auch so wichtig, dass mit der Meinungsware ständig hausieren gegangen wird, man im anderen Milieu, in welchem die andere Währung gilt, möglichst effektiv Werbung für die eigene Positionierung zu treiben sucht.
Der Tauschwert wird hier, wie auf den materiellen Märkten, selbst zu einem Gebrauchswert. Das Geschätztwerden der Meinung als Wert an sich wird wichtiger als der reale Sinn dessen, was da geschätzt wird, der Humbug also triftiger als die Darlegung der objektiven Verhältnisse.
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