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Hundert Spatenstiche
Alexander Kluge gräbt mit seinen Kommentaren Geschichte und Gegenwart um
In der Natur gibt es keine Verneinung.» - Wer weiß das schon? Das weiß Alexander Kluge. Er stellt diesen Satz an das Ende eines kurzen Nachdenkens über chinesische Schriftzeichen in seinem neuesten Werk «Das Buch der Kommentare». Es erscheint rechtzeitig vor seinem 90. Geburtstag am 14. Februar. Und dieser Satz bestimmt, wo dieser Mann steht. Kluge selbst bekundet, gleichsam Programm für diese hier vorgelegten Texte: «Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie sind Bergwerke, Katakomben, Brunnen, die stollenartig in die Tiefe graben. Es reizt mich, diese besondere Form der Narration neu zu erproben.»
Der Reiz dieser Erprobung geht auf wundersame Weise auf die Leser über, der unterhaltsam wie erkenntnisbringend in über 200 Spatenstichen in spannende geistige Tiefen mitgenommen wird. Gegraben wird im «unruhigen Garten der Seele» (so der Untertitel des Buches). Klammer der zwölf Stationen ist der Grundgedanke des Kommentars von leitmotivisch gesetzten Wörtern.
Was einem klugen Mann nicht alles durch den Kopf geht! Wie er es versteht, den Adressaten seiner persönlichen Beobachtungen, Überlegungen und Urteile damit zu fesseln, alles auf die Waagschale zu legen, ohne ideologische Grundierung eine im besten Sinne fortschrittliche Atmosphäre zu entwickeln. Kluges Kommentare sind keine Sammlung aller wichtiger Fragen an die Welt, an die Natur, an den Menschen. Sie erheben keinen Ausschließlichkeitsanspruch, sind auch keine «letzten» Antworten auf gestellte und ebenso nicht gestellte Fragen. Sie firmieren als eine intelligente Erzählung, als innerer Monolog, der sich an ein aufgeschlossenes, interessiertes Lesepublikum wendet, um Aufklärung zu erlangen. Seine Kommentare sind zudem, wie stets bei Kluge, von überwältigender sprachlicher Klarheit. Sie reifen im unruhigen Garten der Seele.
Berührend sind die Erinnerungen an das Sterben seiner Schwester Alexandra, der er schon in seinem frühen Film «Abschied von gestern» ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Wie intensiv sich der reife Autor an seine Kindheit in Halberstadt erinnert, an die Fliegerangriffe zu Ende des von Hitlerdeutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges, an sein Elternhaus und vor allem den Dachboden. Eindrucksvoll ist sein mehrteiliges Interview mit der Virologin Karin Mölling, die ihm anvertraut: «Viren haben vier robuste Fähigkeiten. KLEBEN, SCHNEIDEN, MUTIEREN, SICH VERMEHREN.» Kluge zeigt, das Viren platonische Körper sind; von denen soll es fünf geben. Wer jetzt neugierig geworden ist, lese selbst. Zahlreiche Abbildungen kommentieren die Kommentare.
Kluges Buch überrascht mit dem Funkspruch vom 28. November 1917 «An die Völker der Kriegführenden!», mit dem sich der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der jungen Sowjetmacht, Leo Trotzki, und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Wladimir Iljitsch Lenin, für einen sofortigen Waffenstillstand nach mehr als drei Jahren des blutigen Ersten Weltkrieges beschwörend an die unter ihren kriegslüsternen Regierungen sowie profit- und eroberungssüchtigen Wirtschaftsbossen leidende Menschheit wandten. Eine nach wie vor aktuelle Plage wird hier angesprochen.
Das Buch «Auch eine Geschichte der Philosophie» von Jürgen Habermas wiederum ist für Kluge Anlass, weit in die griechische Geschichte zurückzugehen. Gedanken über räuberische Haie und Großschildkröten begleitende Pilotfische führen ihn dann zu Erinnerungen an Hans-Jürgen Krahl vom Frankfurter SDS. Kluge singt ein Loblied auf die Übersetzer auf der Genfer Indochina-Konferenz 1954, die dem Krieg Frankreichs gegen seine nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien ein Ende bereitete. Den Dolmetschern gelang in den letzten, die Tagungszeit bereits überschreitenden 20 Minuten, was den Politikern tagelang nicht gelingen wollte.
Jeder Essays öffnet ein Tor, das zu durchschreiten den Lesern Geschichte und Gegenwart transparent werden lässt. Kluge wühlt tief, klärt auf, macht süchtig nach mehr Einsicht und Erkenntnis. Den für ihn typischen unprätentiösen Stil und Ausdruck hat Kluge wohl schon beherrscht, bevor er Jurist wurde. Die von ihm mit allen Sinnen aufgenommene Welt in ihrer Vielfalt und Problembeladenheit, die er meisterhaft in all seinen filmischen Werken zu reflektieren wusste, hält auch die Leser dieser Kommentare in Atem. Wer nach der Lektüre dieses Bandes Lust auf mehr hat, greife zu dem ebenfalls just in dieser Woche auf den Markt gelangten Buch «Zirkus/Kommentar».
Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele. Suhrkamp, 400 S., geb., 32 €;
Alexander Kluge: Zirkus/Kommentar. Suhrkamp, 176 S., geb., 28 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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