Impfen als soziale Frage

Ein Zusammenhang zwischen Herkunft und Impfbereitschaft scheint in der Einwanderungsstadt Berlin konstruiert - und besteht doch

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 7 Min.

Es sollen 250 Grundschulkinder am Tag sein, die sich von Donnerstag bis Samstag im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt in Südneukölln impfen lassen können - in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Die Aktion folgt laut dem Bezirk Neukölln einer Initiative der Schulstadträtin Katrin Korte. Aber auch dem in der vergangenen Woche von der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (beide SPD) ausgegebenen Motto, die Impfquote Berlins weiter dadurch zu erhöhen, dass das sogenannte aufsuchende Impfen verstärkt in Kiezen mit »schwierigen sozialen Lagen« stattfinden solle. »In die Communitys« solle man gehen, so Giffey, mit »viel Aufklärungs- und Informationsarbeit in verschiedenen Sprachen durch Vertrauenspersonen vor Ort« agieren. »Alle Informationen müssen dabei verständlich und kultursensibel sein. Multiplikatoren und auch mehr Ärzte mit Migrationsgeschichte, die besonderes Vertrauen genießen, sind für diese Arbeit unerlässlich«, erklärte die Regierende, deren erste vier Wochen im Amt flankiert sind von der massiven Ausbreitung der Omikron-Virusvariante.

In Berlin hat mehr als jeder dritte Mensch eine Migrationsgeschichte, die Quote derjenigen, die mindestens einmal geimpft sind, liegt aktuell bei 76,4 Prozent. Beim Impfschlusslicht Sachsen (64 Prozent) beträgt laut Statistischem Bundesamt »der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung« gerade mal fünf Prozent. Woher kommt die Idee, es seien gerade die Menschen, deren Leben von Migrationserfahrungen in erster, zweiter oder dritter Generation geprägt ist, die sich nicht mit einem der Vakzine immunisieren lassen wollen?

Elif Eralp, Sprecherin für Partizipation, Migration und Antidiskriminierung der Berliner Linksfraktion, kritisiert in dem Zusammenhang gegenüber »nd« »unbelegte öffentliche Aussagen der Regierenden Bürgermeisterin zur besonderen Impfskepsis bei Menschen mit Migrationsgeschichte«, die allerdings geeignet seien, Ressentiments zu schüren, und »kein bisschen in der nötigen Pandemiebekämpfung weiterhelfen« würden.

Auch Katarina Niewiedzial, Integrationsbeauftragte des Landes, hatte Franziska Giffey zu Beginn des Jahres widersprochen, als diese nach einer ihrer ersten Senatssitzungen erklärt hatte, die Impfkampagne müsse verstärkt Menschen ansprechen, »die wir bisher auch in deutscher Sprache nicht so gut erreichen«. Aus Sicht von Niewiedzial hat nämlich genau das seit zwei Jahren stattgefunden, nicht zuletzt auf ihre Initiative hin. »Ich habe gleich zu Beginn der Pandemie darauf hingewirkt, dass die Gesundheitsverwaltung sich stärker mehrsprachig engagiert«, sagt die Integrationsbeauftragte zu »nd«. Sie habe nach Giffeys Äußerung ein Treffen angeregt, bei dem sich die Regierende und auch Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) ein Bild davon verschaffen hätten können, wie intensiv die Zusammenarbeit bereits funktioniere. Über die Videokonferenz mit 74 Teilnehmenden von Migrant*innenorganisationen, Trägern des Integrationslots*innenprogramms über Vertreter*innen von Religionsgemeinschaften, muslimischen Vereinen, Wohlfahrtsverbänden, Stadtteilzentren, aber auch aus der Berliner Verwaltung bis hin zu Botschaftsangehörigen, das dann in der vergangenen Woche stattgefunden hatte, sagte Giffey anschließend, es sei ein »wertvoller Austausch« gewesen.

»Der Vorstoß war gut«, erklärt Niewiedzial. Man müsse die Pandemielage zur »Chefinnensache« machen. Jetzt sei das Signal angekommen, dass man sich auch für diejenigen interessiere, »die seit 2020 ganz wichtige und zuverlässige Partner zur Eindämmung der Pandemie« seien, so die Integrationsbeauftragte. »Sie leisten großartige Arbeit, häufig ehrenamtlich und mit sehr eingeschränkten Ressourcen. Die Vereine haben übersetzt, erklärt und beraten. Sie haben Eltern und Kindern im Homeschooling geholfen, zu Coronahilfen informiert, Verordnungen und Gesetze erklärt und für das Testen und Impfen geworben«, betont Niewiedzial. »Auf den ersten Blick mag es so aussehen, dass sich Menschen mit ausländischem Pass oder Migrationsgeschichte weniger impfen lassen würden, aber bei der Betrachtung der Alterskohorten stimmt dies wiederum überhaupt nicht«, sagt die Integrationsbeauftragte zu einer angeblichen Impfskepsis. Sie verweist auf eine repräsentative Studie aus Österreich, wo im Unterschied zu Deutschland bei der Vergabe der Vakzine die Nationalität erfasst wird. »Man kann sehen, dass es in den jüngeren Generationen überdurchschnittlich viele mit Migrationsgeschichte sind, die sich impfen lassen.« Nur bei den älteren Österreicher*innen seien jene stärker vertreten, die keine Migrationsgeschichte haben. »Man muss differenzieren«, fordert Niewiedzial.

Auch der Sozialpolitiker Taylan Kurt, der für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, warnt davor, die steigenden Inzidenzen in Berlin zu ethnisieren. »Diese zu einem Problem insbesondere in migrantischen Milieus zu machen, geht komplett an der Realität vorbei«, sagt Kurt zu »nd«. Wer solche Behauptungen aufstelle, bediene den »rechten Stammtisch«. Kurt sagt vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in Moabit und im Brüsseler Kiez, seinem Wahlkreis: »Menschen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund sind seit Jahrzehnten sozial benachteiligt. Sie haben die schlechter bezahlten Jobs, arbeiten unter prekäreren Arbeitsbedingungen in körperlich beschwerlicheren Jobs, haben dadurch auch ohne Corona eine kürzere Lebenserwartung, leiden häufiger unter chronischen Krankheiten und haben monatlich im Ergebnis deutlich weniger Geld zur Verfügung als Berliner und Berlinerinnen ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund.«

In der Folge lebten sie deutlich häufiger in beengteren Wohnverhältnissen, könnten sich angesichts explodierender Mietkosten und Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt keine größeren Wohnungen leisten. Berufliche Tätigkeiten im Dienstleistungssektor könnten nicht im Homeoffice stattfinden, Eltern könnten ihre Kinder nicht zu Hause per Homeschooling unterrichten. Auch deshalb nicht, »weil sie selbst nicht die Bildung im Berliner Schulsystem erfahren haben, um mit den Kindern Lernlücken nachzuarbeiten«, weiß der Grünen-Politiker. Kinder müssten unter anderem deshalb zwingend in die Schule, seien dort aber der Gefahr ausgesetzt, sich selbst und so auch ihre Familienmitglieder mit Corona anzustecken.

Dass die Infektionen augenscheinlich häufig Berliner Familien in migrantischen Milieus treffen, liegt also nicht am Migrationshintergrund, sondern an Armutsgefährdung, engen Wohnungen und sozialer Benachteiligung. »Wer sich den sozialen Ursachen dieser Infektionskette verweigert, macht sich einen schlanken Fuß und versucht, Symptome zu bekämpfen statt die Ursachen«, fasst Taylan Kurt es zusammen. »Corona ist das Virus, aber die Pandemie ist die soziale Schieflage in Berlin.«

Patricia Hänel vom Gesundheitskollektiv Berlin, das ein Stadtteilgesundheitszentrum im Neuköllner Rollbergkiez aufbaut und gleichzeitig auch schon betreibt, sieht in Aktionen, wie sie jetzt im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt initiiert werden, indes weniger Potenzial, um noch neue Impfwillige zu erreichen. Für sie kommt der von Giffey formulierte Ansatz deutlich zu spät. »Wir haben vor einem Jahr, als die Situation noch offen war und die ersten Impfbusse eingesetzt wurden, erklärt, dass es damit nicht genug ist. Wir haben Konzepte und Ideen eingereicht, wie durch bessere Kommunikation und Community-Kontakt diejenigen erreicht werden können, denen es vor allem an Information gefehlt hat.« Diese seien zum entscheidenden Zeitpunkt mit dem Verweis auf zu viel Aufwand abgelehnt worden.

Wer jetzt noch nicht geimpft sei, sei davon wohl auch nicht mehr zu überzeugen. »Der Zug ist abgefahren«, sagt Hänel. »Manche haben sich umstimmen lassen, weil sie fliegen wollten, bei den anderen hat sich die Abwehr eher gefestigt.« Dies betreffe auch die Kinderimpfungen. In der Kinderarztpraxis des Gesundheitskollektivs im Rollbergkiez ließen demnach jene Eltern ihre Kinder impfen, die selbst immunisiert und gut informiert sind und zu den Neuköllner*innen gehören, die man eigentlich nicht als Zielgruppe habe: »gentrifiziertes weißes Klientel«, so Hänel.

Die Einschätzung deckt sich mit der Resonanz in Gropiusstadt: Gekommen sind am Donnerstag laut Gesundheitsverwaltung 48 Kinder. Für Freitag seien schon 76 Termine gebucht worden. Darüber, ob die Kids auch alle in Gropiusstadt zu Hause sind, könne man allerdings nichts sagen.

In jedem Fall gibt es nach der Zusammenkunft zwischen Giffey, Kipping, Niewiedzial und anderen neue Verabredungen für Impfangebote an vertrauten Orten in den Kiezen. Stadtteilzentren und Begegnungsorte wie in der Pallasstraße in Schöneberg, im Soldiner Kiez in Gesundbrunnen und im »Global Village« in Neukölln sollen eingebunden werden. Man werde vor Supermärkten und bei Freitagsgebeten vor Moscheegemeinden mit mehrsprachigen Impfinformationen stehen, Angebote für Pendler*innen aus dem Ausland schaffen und darauf achten, dass es eine Ausweitung der mehrsprachigen und kulturell diversen Ärzteteams bei den Impfaktionen gebe, teilte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales mit.

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