Opfern wahre Hilfe bieten

Für die angemessene Unterstützung der Betroffenen von Missbrauch durch die katholische Kirche braucht es ein Opfergenesungswerk, meint Matthias Katsch

  • Matthias Katsch
  • Lesedauer: 4 Min.

Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind zwischen 1945 und 2019 von Priestern, Diakonen oder anderen Kirchenmitarbeitern im Erzbistum München sexuell missbraucht worden, heißt es in der jüngsten Untersuchung der Kanzlei Westpfahl Spicker Wastl. Die Enthüllungen sind symptomatisch für die ganze katholische Kirche. Nach dem ersten Schock besteht nun die Gefahr, dass Katholiken und Katholikinnen mit dem jahrzehntelangen Spiel fortfahren, über die Reformen ihrer Kirche zu streiten. Dabei besteht kein Zweifel: Eine solche Reform ist notwendig und wird die Form einer tiefgreifenden Umwälzung haben müssen. Am Ende wird die Kirche eine andere sein, als sie es in meiner Kindheit war.

Aber solche Prozesse brauchen Zeit. Diese Zeit haben die Opfer nicht. Die von Missbrauch Betroffenen brauchen jetzt Hilfe und Unterstützung, Anerkennung und Entschädigung. Seit zwölf Jahren diskutieren wir über diese Themen und sind doch kaum vorangekommen. Ihre Lebenszeit rinnt dahin. Deshalb fordere ich die Kirchenmitglieder in diesem Land auf: Lasst uns ein Opfergenesungswerk errichten, an das sich Betroffene ihrer Kirche wenden können. Wo sie Hilfe in Notlagen, für gesundheitliche Rehabilitation und zur Entlastung bei der Lebensbewältigung finden. Die Bedarfe sind allen klar, die sich mit den Folgen von sexueller Gewalt in der Kindheit befassen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Aber die Angebote unseres Sozialsystems reichen nicht aus, sind oft nur schwer zugänglich und erreichen gerade die bedürftigsten Betroffenen nicht: den alleinstehenden 80-jährigen Mann in einem kleinen Dorf, der mit der Schreibmaschine Bittbriefe schreibt, in denen er von den Vergewaltigungen durch den Pfarrer vor sieben Jahrzehnten berichtet und wie diese Erfahrung verhindert hat, dass er je ein Beziehungsleben entwickeln konnte. Oder die Frau, die als Kommunionkind sexuelle Übergriffe erdulden musste und heute Angst hat, ihre Wohnung zu verlieren, weil ihre Rente nicht reicht und sie durch ihre wiederkehrenden Depressionen nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen. Das Opfer der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, das von sich sagt, sein einziges Verbrechen im Leben sei es gewesen, keine Eltern zu haben und damit der Gewalt und dem Missbrauch in einem kirchlichen Kinderheim ausgeliefert worden zu sein.

Sie alle leiden nicht nur unter den materiellen und gesundheitlichen Folgen eines Lebens, das früh entgleiste, sondern leben bis heute mit einer großen Scham darüber, was ihnen von Männern und manchmal auch Frauen der Kirche angetan wurde. Ein Opfergenesungswerk könnte auch Vorbild für weitere Förderungs- und Unterstützungseinrichtungen für Opfer von Gewalt und Missbrauch in anderen Kontexten sein. Darauf zu warten, dass große gesellschaftliche Lösungen gefunden und umgesetzt werden, bedeutet hingegen, die Opfer vor der eigenen Kirchentür zu verraten.

Neben individueller Hilfe muss es auch um Schmerzensgeld für die Verbrechen der Täter und ihrer Mithelfer gehen. Seit 2019 liegt ein Konzept für eine echte Entschädigung der Opfer der katholischen Kirche auf dem Tisch. Es wurde von Expertinnen und Betroffenenvertretern gemeinsam entwickelt, den Bischöfen vorgestellt und dann von diesen als zu teuer beiseite gewischt. Stattdessen setzte man weiter auf »Anerkennungszahlungen«, die aber intransparent und willkürlich sind. Die zugrundeliegenden Verfahren sind retraumatisierend, die schlussendlich zugestandenen Summen enttäuschend. Will man die Opfer wirklich zu einem unsicheren und langwierigen Klageweg zwingen? Oder spielt die Kirche einfach auf Zeit?

Der Fisch stinkt vom Kopf - In der katholischen Kirche hatte Täterschutz und Schutz der Institution immer höchste Priorität

Wir brauchen daher einen Runden Tisch von Laienkatholiken und Bistumsvertretern mit Betroffenenvereinen und -vertretern, um auf der Grundlage des Vorschlags von 2019 über ein Konzept der Entschädigung zu verhandeln. An die Politik appelliere ich, einen solchen Runden Tisch anzustoßen und zu moderieren.

»Es reicht!«, haben viele Katholiken und Katholikinnen am vergangenen Donnerstag bei der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens gedacht. Den Opfern reicht es schon lange. Deshalb: Jetzt ist der Moment für Hilfe und Entschädigung.

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