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Das Gedenken ist politisch
50 Jahre »Bloody Sunday«: Die britische Armee schoss am 30. Januar 1972 auf Demonstranten im nordirischen Derry, 14 starben. Der Tag prägt die dortige Gesellschaft bis heute
Die Geschichte des »Bloody Sunday«, des Blutsonntags, eines der gewaltvollsten Tage im Nordirland-Konflikt (1969-1998), steht stellvertretend für dessen bis heute schmerzhaftes und umkämpftes Nachleben. Vor mittlerweile 50 Jahren, am 30. Januar 1972, erschossen britische Fallschirmjäger in der zweitgrößten nordirischen Stadt Londonderry/Derry insgesamt 13 irisch-katholische Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration und verletzten zahlreiche weitere. Die Bilder sorgten weltweit für Entsetzen, die britische Regierung nahm ihre Armee jedoch über Jahrzehnte in Schutz.
Erst mit der Veröffentlichung eines erneuten Untersuchungsberichtes im Juni 2010 entschuldigte sich der damalige konservative Premierminister David Cameron offiziell für den Bloody Sunday. Kate Nash, deren 19-jähriger Bruder William unter den Todesopfern war, sagte an diesem Tag auf der öffentlichen Begleitveranstaltung in Derry: »Vor 38 Jahren ging die Geschichte um die Welt (...), dass es in unseren Straßen bewaffnete Männer und Bombenleger gegeben habe und diese erschossen worden wären. Heute ist diese Lüge enttarnt worden. (...) Mein Bruder William: Wir wissen, dass er unschuldig war, wir haben es immer gewusst - jetzt weiß es die Welt.« Die Frage aber, wie mit den Taten der britischen Armee in Nordirland langfristig und juristisch umgegangen werden soll, ist bis heute aktuell.
Die britische Armee in Nordirland
Bereits Ende der 60er Jahre hatten sich die politischen Auseinandersetzungen in Nordirland verschärft. Die aufstrebende nordirische Bürgerrechtsbewegung thematisierte vor allem die Diskriminierung und soziale Benachteiligung der irisch-katholischen Bevölkerung in der hauptsächlich unionistisch-protestantisch geprägten Region. Nordirland war als mehrheitlich protestantisch-probritische Provinz im Vereinigten Königreich verblieben, nachdem der mehrheitlich irisch-katholische Süden sich Anfang der 1920er Jahre für unabhängig erklärt hatte. Teile der unionistisch-protestantischen Bevölkerung wehrten sich gegen die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung, sektiererische und gewaltvolle Konfrontationen zwischen beiden Seiten und nordirischen Polizeikräften nahmen zu. Schließlich entsandte die britische Regierung im Sommer 1969 die Armee, die anfangs gerade in der irisch-katholischen Bevölkerung als ein möglicherweise neutraler Schutz vor der überwiegend loyalistisch eingestellten nordirischen Polizei, der Royal Ulster Constabulary (RUC) galt. Doch das Verhältnis verschlechterte sich schnell und gelangte mit den tödlichen Schüssen britischer Fallschirmjäger auf die Bürgerrechtsdemonstration am Bloody Sunday endgültig an einen Tiefpunkt. Der Widerstand gegen die britische Politik im Nordirland-Konflikt verschärfte sich in der Folge massiv und republikanische nordirische Paramilitärs wie die Provisional Irish Republican Army und die Official Irish Republican Army erhielten großen Zulauf. Politisch fundamental entgegen standen diesen loyalistische paramilitärische Gruppierungen wie die Ulster Volunteer Force oder Ulster Defence Association.
Der 30. Januar 1972
Für den 30. Januar 1972 hatte die Bürgerrechtsbewegung in Derry eine - nicht genehmigte - Demonstration organisiert, um gegen die Internierung ohne Gerichtsverfahren zu protestieren, welche von der britischen Regierung bereits im Sommer 1971 eingeführt worden war und die für zahlreiche Verhaftungen vor allem unter der irisch-katholischen Bevölkerung sorgte. Der Demonstrationszug hatte sich im Stadtteil Creggan versammelt und sollte in die Innenstadt ziehen. Die Menge wurde jedoch von der britischen Armee aufgehalten und daraufhin von den Organisator*innen in das Viertel Bogside umgeleitet. Beide Stadtteile sind traditionell irisch-nationalistisch geprägt und waren damals umgeben von Armeestützpunkten.
Einige Jugendliche gerieten hier in Auseinandersetzungen mit Soldaten, woraufhin britische Fallschirmjäger in die Demonstration eingriffen. Um kurz nach 16 Uhr eröffneten sie das Feuer und verletzten zunächst einige Demonstrierende schwer, bevor sie Jackie Duddy (17), Patrick Doherty (31), Bernard McGuigan (41), Hugh Gilmour (17), Kevin McElhinney (17), Michael Kelly (17), John Young (17), William Nash (19), Michael McDaid (20), James Wray (22), Gerald McKinney (34), Gerald Donaghey (17) und William McKinney (27) erschossen. Der Demonstrant John Johnston (59) wurde schwer verletzt und verstarb wenige Wochen später. Edward Daly, ein Priester und späterer Bischof von Derry, wurde Augenzeuge des Todes von Jackie Duddy.
Topografie des Nordirland-Konflikts
Die Unmittelbarkeit und Nähe der Gewalt, mit der die Ereignisse des Bloody Sunday die Stadt Derry geprägt haben, wird besonders deutlich, wenn man sich die zeitlichen und topografischen Zusammenhänge vor Ort anschaut. Derry hat heute etwa 85 000 Einwohner*innen, ist also eine relativ kleine Stadt. Eine deutliche Bevölkerungsmehrheit versteht sich als irisch-katholisch, weshalb die Stadt vor Ort zumeist als Derry bezeichnet. Das historische Zentrum liegt von alten Mauern umgeben auf einem Hügel, es war während der »Troubles« - wie der Konflikt in Nordirland auch genannt wird - von der britischen Armee abgeriegelt und konnte nur nach einer Personenkontrolle betreten werden. Auch auf den Stadtmauern waren britische Soldaten stationiert und blickten über die wortwörtlich unter ihnen liegenden, irisch-nationalistisch geprägten Stadtteile Bogside und Creggan: die Schauplätze des Bloody Sunday. Um von den Stadtmauern dort hinunter zu laufen, braucht es weniger als fünf Minuten.
Weite Teile des rund 30 Jahre währenden Nordirland-Konflikts trugen sich in derart eng bemessenen städtischen Räumen zu. Auch am Bloody Sunday wurden alle Personen innerhalb kurzer Zeit und innerhalb von wenigen hundert Metern rund um die bekannten Wohnblöcke der Rossville Flats erschossen. Diese Häuser wurden in den 80er Jahren abgerissen, aber Denkmäler, Wandbilder und verschiedenste Informationstafeln erinnern noch heute an die Ereignisse und markieren konkrete Orte des Geschehens. Der Bloody Sunday ist - vor allem in der Bogside und Creggan - alles andere als vergessen. In das Gedenken mischen sich neben vielen anderen Akteur*innen allerdings auch dissidentische republikanische Splittergruppen ein, die in jüngster Zeit in Creggan die Journalistin Lyra McKee ermordet hatten.
Konsequenzen bis in die Gegenwart
Mit der Veröffentlichung des eingangs erwähnten Untersuchungsberichtes im Jahr 2010, des sogenannten Saville Report, entschuldigte sich David Cameron im Namen der britischen Regierung für den Bloody Sunday. Der Premierminister erklärte alle Todesopfer und Verletzte für unschuldig und unbewaffnet und hielt fest: »Was an Bloody Sunday geschah, war und ist nicht zu rechtfertigen - es war falsch.« Tony Doherty, dessen Vater Patrick ebenfalls erschossen worden war, betonte an jenem Tag vor der applaudierenden Menschenmenge am Rathaus in Derry: »Bloody Sunday hat Derry sehr, sehr schwer getroffen. Nun, wir hoffen, dass wir ab heute unsere Wunden verbinden können. Aber wir sind uns auch bewusst, dass die Fragen, die sich aus dem Bericht ergeben, über die Belange von Derry hinaus und tiefer gehen. Wenn der Staat seine Bürger tötet, ist es im Interesse aller, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Es ist (...) die Demokratie selbst, die erfahren muss, was hier, auf den Straßen von Derry, im Jahr 1972 passiert ist.«
Tatsächlich ist die Frage, wie mit den Taten der britischen Armee im Nordirland-Konflikt umgegangen werden soll, erstaunlich aktuell. Im Spätsommer 2021 hatte die britische Regierung angekündigt, sämtliche Verfahren gegen Soldaten, die in Nordirland eingesetzt waren, zu verunmöglichen und eine generelle Amnestie auszusprechen. Eine Anklage, die gegen ein Mitglied des Fallschirmjägerregiments von Bloody Sunday ursprünglich erhoben worden war, wurde fallengelassen. Die Kämpfe um ein mögliches Gerichtsverfahren ziehen sich bis heute, da Familienangehörige der Opfer nicht aufgeben.
Letztlich ist trotz der Entschuldigung der britischen Regierung bis heute kein Gerichtsurteil über irgendeinen der an Bloody Sunday beteiligten Soldaten gesprochen worden. Auch ist weitestgehend vergessen, dass dieselbe Einheit von Fallschirmjägern bereits im August 1971 in das Ballymurphy Massacre im Westen der Hauptstadt Belfast involviert gewesen war: eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen britischer Armee und Lokalbevölkerung rund um die Einführung der Internierung ohne Gerichtsverfahren und der darauf folgenden Verhaftungswelle. Auch in diesem Fall erreichten Familienangehörige erst 2021, dass eine nordirische Untersuchungskommission die zivilen Todesopfer für unschuldig und die britische Armee für mindestens neun der Toten verantwortlich erklärte.
Beide Ereignisse, der Bloody Sunday und das Ballymurphy Massacre, stehen für das Fehlverhalten und die Verbrechen der britischen Armee in Nordirland, mit denen die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise in Berührung kam. Insgesamt starben im Nordirland-Konflikt mehr als 3600 Menschen, wobei der weitaus größte Teil der Todesopfer allerdings republikanischen und loyalistischen Paramilitärs zuzuschreiben ist. In jedem Fall ist Nordirland auch Jahrzehnte nach dem offiziellen Ende der »Troubles« durch das Karfreitagsabkommen von 1998 von den Erfahrungen des Konflikts und Auseinandersetzungen um seine Deutung gezeichnet.
Juliane Röleke ist Historikerin, lebt in Berlin und promoviert an der Humboldt-Universität und am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Nordirland in den Jahren 1965 bis 1985.
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