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Der Krampf mit der Pflicht
Kann eine Impfpflicht erfolgreich sein? Je genauer man es sich ansieht, desto weniger plausibel wirkt das Vorhaben
Nachdem sie von zahlreichen Politikern erst kategorisch ausgeschlossen wurde, soll sie nun doch kommen: die gesetzliche Impfpflicht. Nun sollte man, auch wenn man sie befürwortet, nicht beschönigen, dass es sich dabei um ein nicht unerhebliches Zwangsmittel handelt, das der Staat gegen die Bürger einsetzt. Deswegen sind solchen Eingriffen strenge Grenzen gesetzt, sie können nur das Resultat wohlbedachter Abwägungen sein. Moralischer Maximalismus ist hier ebenso fehl am Platz wie Kinderarztjargon à la »ist doch nur ein Piks«. Es ist eine politische Frage, in der Rechte und Pflichten des Staates und der Bürger verhandelt werden. Und die auch deswegen so aufgeladen ist.
Zieht man die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zu Rate, so heißt es dort, eine allgemeine Impfpflicht »wäre verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Regelung verhältnismäßig wäre, mit ihr also ein legitimes Ziel verfolgt würde und sie ferner geeignet, erforderlich und angemessen wäre, um dieses Ziel zu erreichen«. Das sind mehrere Bestimmungen, die alle zugleich erfüllt sein müssen. Und selbst dann wäre nur festgestellt, dass sie möglich wäre. Die demokratische Debatte wäre dann noch immer zu führen. In der Vergangenheit, so der Medizin- und Impfhistoriker Malthe Thießen, sei eine Impfpflicht nie so erfolgreich wie erhofft gewesen, Skepsis und Ablehnung wurden dadurch gar verstärkt. »In historischer Perspektive ist Freiwilligkeit ein Erfolgsrezept«, so Thießen.
Zurück in die Gegenwart: Welche Ziele könnte eine Impfpflicht verfolgen? Herdenimmunität? Eine sterile Immunität ist beim jetzigen Coronavirus nicht zu erreichen (siehe »nd« vom 26. Januar). So sieht es die Fachwelt, aus der sich kaum jemand für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen hat. Erhöhung der Impfquote? Für dieses Ziel müssten mildere Mittel wie eine auf Zielgruppen zugeschnittene Impfkampagne oder selbst Prämien zuvor ausgeschöpft, was nicht der Fall ist. Verhinderung von Infektionen? Die Impfung kann den Krankheitsverlauf beeinflussen, nicht aber das Infektionsgeschehen, wie man gerade weltweit sehen kann. Dass Impfungen generell Infektionen verhindern, ist schlicht unwahr, auch wenn es der Bundeskanzler höchstpersönlich behauptet.
Wenn Impfungen schwere Erkrankungen unwahrscheinlicher machen, würde eine Impfpflicht dann nicht die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern helfen? So könnte man argumentieren. Wenn man der Überlastung nicht mit einer Veränderung des Gesundheitswesen entgegenwirken möchte. Tut man dies nicht und setzt stattdessen auf eine Impfpflicht, bürdet man die sozialen Folgekosten dieses gesellschaftlichen Missstands - einem Gesundheitssystem, das nicht mehr Gesundheit für alle, sondern Profite für Wenige im Blick hat - den Einzelnen auf. Willkommen im Neoliberalismus. Und die Rückkehr zum normalen Leben, zur Freiheit? Die hängt nicht an einer Impfpflicht, das kann man auch in aller Welt sehen.Das sollte man also nicht verknüpfen. Die Aufhebung der Maßnahmen ist eine politische Frage für sich, die es jetzt - angesichts milder Erkrankungen und der Zulassung neuer Medikamenten gegen Covid - zu diskutieren gälte. Doch sollte man nicht zuvor Impfgegnern und -skeptikern eine Lektion erteilen? Eine Impfpflicht ist kein Mittel zur Erziehung und die öffentliche Gesundheitspflege keine moralische Anstalt.
Eine Impfpflicht für Ältere zielt auch auf die Entlastung des Gesundheitssystems, berücksichtigt aber die reale Krankheitslast. Klingt vernünftig? Nur würde man den Älteren das Recht zur eigenen Entscheidung absprechen. Warum dann nicht auch Übergewichtigen, psychisch Kranken oder anderen, die ein höheres Erkrankungsrisiko haben und also einem neoliberalisierten Gesundheitssystem »zur Last fallen«? Oder den Armen? Sollte man das mühselig erkämpfte Prinzip der Freiwilligkeit und Mitbestimmung in der öffentlichen Gesundheitspflege so leichtfertig aufs Spiel setzen? Die Ausarbeitung des Bundestages ist in diesem Punkt deutlich: »Wenn schon einem Kranken eine medizinische Behandlung zu Heilungszwecken nicht aufgenötigt werden darf, dann darf sie erst Recht einem Gesunden nicht zu seinem vorbeugenden Schutz aufgenötigt werden. Eine Impfpflicht, die allein dem Selbstschutz der Geimpften dienen würde, wäre mithin kein legitimes Ziel.«
Genesene wären von einer Impfpflicht sowieso ausgenommen, wie lange, wäre dann der nächste Streitpunkt. Fragt sich, ob es beim jetzigen Infektionsgeschehen überhaupt noch Menschen gibt, die weder geimpft noch genesen sind, wenn die Debatte sich ihrem Ende neigt. Und weil eine Impfpflicht penibel nachweisen müsste, dass die jeweiligen Impfstoffe bei den jeweiligen Virusvarianten ein verhältnismäßiges Mittel im Sinne der oben genannten Kriterien darstellen, kann man den juristischen Klein- oder Großkrieg nur erahnen, der sich mit einer möglichen Umsetzung andeutet. Nach der Ausarbeitung für den Bundestag wäre für die Abwägung zudem die neuartige mRNA-Technologie zu beachten, »deren Auswirkungen nicht abschließend erforscht und bekannt sind«. Vom sanitätspolizeilichen Aufwand ganz zu schweigen - erfassen, kontrollieren, sanktionieren und so weiter. Das führt zu weiteren »sozialen Nebenwirkungen«, wie es Thießen nennt.
Der Wunsch nach einem Ende des pandemischen Ausnahmezustands treibt alle um. Doch sollte man ihn nicht auf ein Vorhaben projizieren, das das weder einlösen kann noch verhältnismäßig ist, sonst gibt man sich einer »autoritären Illusion« hin, wie Matthias W. Birkwald von der Linksfraktion sagte. Politik bewegt sich in selbstgeschaffenen Sachzwängen und Erzählungen, das Ende der Pandemie ist eine politische Frage. Und man stelle sich nur einmal vor, die politische Klasse würde mit der gleichen obsessiven Energie über ein besseres öffentliches Gesundheitssystem oder die Abschaffung der Armut, noch immer das größte aller Krankheitsrisiken, debattieren.
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