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Mammutprojekt Bahnausbau
Die Region muss sich angesichts knapper Planungs- und Baukapazitäten auf das wirklich Wichtige fokussieren
Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken ist für so manche Region Brandenburgs ein wichtiges Anliegen. Umso länger waren die Gesichter, als Infrastrukturminister Guido Beermann (CDU) kürzlich die entsprechende Potenzialanalyse vorlegte, die im Auftrag seines Ministeriums von PTV - Transport Consult GmbH angefertigt wurde. Demnach soll für acht Strecken ohne Personenverkehr und vier Halte die Wiederinbetriebnahme geprüft werden (siehe Infokasten).
»Wenig ambitioniert«, nennt Andreas Büttner, Verkehrsexperte der Linksfraktion im Brandenburger Landtag, das Vorhaben. »Vor 2027 passiert bis auf die Erstellung von Machbarkeitsstudien gar nichts. Nordbrandenburg fällt bei der Auswahl der Strecken komplett hinten runter«, kritisiert er. Als »Scheingefecht« bezeichnet der Brandenburger Linke-Bundestagsabgeordnete Christian Görke den Verweis des Brandenburger Verkehrsministeriums auf nötige Verhandlungen mit dem Bund über das Programm zur Wiederinbetriebnahme. »Der Bund hat die Mittel schon längst bereitgestellt und beteiligt sich mit bis zu 90 Prozent an den Reaktivierungskosten«, so Görke. Er hatte sich in den letzten beiden Jahren intensiv für Reaktivierungen eingesetzt.
- PTV - Transport Consult hat im Auftrag des brandenburgischen Infrastrukturministeriums die Potenziale für die Reaktivierung von 42 Bahnstrecken und 35 Stationen untersucht. Dies geschah anhand einer Matrix, die unter anderem auf Anwohner- und Schülerzahlen in der Umgebung und der Verknüpfung mit dem restlichen Eisenbahnnetz basiert.
- Das Ministerium schnürte auf Basis der Ergebnisse drei Pakete mit Strecken oder Bahnhöfen, die genauer untersucht werden sollen.
- Paket 1 besteht aus den vier Strecken Rathenow - Rathenow Nord (3,3 Kilometer), Fredersdorf - Rüdersdorf (5,4 Kilometer), Werneuchen - Wriezen (33,2 Kilometer) und Luckau-Uckro - Lübben (23,6 Kilometer).
- Paket 2 beinhaltet die Strecken Müncheberg - Müncheberg-Stadt (4 Kilometer), Hoppegarten - Altlandsberg (6,7 Kilometer), Wustermark - Ketzin (8,4 Kilometer) und Falkenberg - Herzberg-Stadt (12 Kilometer).
- Das Bahnhofspaket umfasst Heidefeld (Strecke Brandenburg Hbf. - Rathenow), Kiekebusch (Cottbus Hbf. - Görlitz), Bornim-Grube (Berliner Außenring) und Haida (Oberlausitz) (Strecke Falkenberg (Elster) - Ruhland). nic
Eher der Koalitionsdisziplin geschuldet wirkt auch die Stellungnahme des Grünen-Verkehrsexperten Clemens Rostock. »Festzuhalten bleibt, dass dies der erste Aufschlag eines längeren Prozesses ist«, erklärt er. Im Verfahren gelte es nun, weitere Aspekte unter die Lupe zu nehmen. »Die Strecke Altlandsberg- Hoppegarten ist inzwischen stark überbaut, sodass eine positive Bewertung im weiteren Verlauf doch sehr fraglich ist«, merkt Rostock an. Unzufrieden ist er darüber, dass die Strecke Neustadt (Dosse)-Neuruppin nicht in die weitere Prüfung aufgenommen wurde, »obwohl sie punktemäßig nur knapp hinter Werneuchen-Wriezen liegt und der Abstand zu den nachfolgenden Projekten groß ist«. Den Zeitplan verteidigt er allerdings. Wer ein Vorziehen der Reaktivierungen fordere, verlange damit, dass die Projekte des Eisenbahn-Ausbauprogramms i2030 von Brandenburg und Berlin nach hinten geschoben werden.
»Was die Terminologie Reaktivierungsoffensive beinhaltete, wird natürlich nicht eingehalten«, sagt Fritz Viertel, Brandenburger Landesvorsitzender des ökologisch orientierten Verkehrsclubs VCD zu »nd«. »Die Zeitleiste mit keinem Kilometer Reaktivierung vor 2030 ist jenseits von Gut und Böse«, kritisiert er. »Dabei wäre die Reaktivierung der Strecke Wustermark-Ketzin easy machbar«, glaubt Viertel. Das wäre in seinen Augen zumindest ein symbolischer Fortschritt.
Der ehemalige Brandenburger Verkehrsminister Reinhold Dellmann (SPD) ist da vorsichtiger. Es solle »keine Reaktivierungen um jeden Preis« geben, wenn zum Beispiel »bei nur 300 Fahrgästen am Tag ein öffentlicher Zuschuss von 15 bis 20 Euro pro Fahrt und Fahrgast notwendig« sei. »Dann ist es gerade im ländlichen Raum verkehrlich und finanziell sinnvoller, Rufbusse zum Einsatz zu bringen und die Fahrgäste direkt ›an der Haustür‹ abzuholen«, so Dellmann weiter.
Der SPD-Mann macht sich selbst ohne vorgezogene Reaktivierungsvorhaben Sorgen um den Zeitplan beim Großprojekt i2030. Es beinhaltet Wiederinbetriebnahme und Ausbauten zahlreicher Regional- und S-Bahnstrecken wie Siemensbahn, Potsdamer Stammbahn, Heidekrautbahn oder den Ausbau der Strecke von Berlin-Spandau nach Nauen auf bis zu sechs Gleise. »Ohne eine deutliche Erweiterung von Planungs- und Genehmigungskapazitäten besteht bei i2030 die große Gefahr, dass die heute benannten Planungs- und Realisierungszeiträume noch weiter in die 30er Jahre verschoben werden müssen«, sagt er. Auch sei die Konkurrenz um Planungs- und Baukapazitäten mit anderen großen Infrastrukturprojekten, wie die Sanierung von Brücken oder der Ausbau der Verteilnetze für Strom, »schon heute extrem zu spüren«. Dellmann hat einen guten Einblick in die Branche, von 2011 bis 2018 war er Hauptgeschäftsführer der Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg.
»Wenig sinnvoll« wäre in Dellmanns Augen auch die Verlängerung der Berliner U-Bahnlinie 7 von Rudow zum Flughafen BER, wie ihn Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) mantraartig fordert. »Angesichts der stark steigenden Baupreise sind die Kosten einer U7-Verlängerung zum BER mit sicher 1,5 Milliarden Euro zu beziffern. Rund 80 Prozent hiervon, also 1,2 Milliarden Euro, wäre der Anteil in Brandenburg«, sagt Giffeys Parteifreund. Der BER habe schon heute, und erst recht mit der Fertigstellung der Dresdner Bahn, eine hervorragende Anbindung. Eine Überzeugung, die auch die SPD-Facharbeitsgemeinschaften Mobilität beider Länder kürzlich in einer gemeinsamen Sitzung bekräftigt hatten.
Gefordert wird von den Gremien, dass zunächst nur eine vereinfachte Nutzen-Kosten-Untersuchung für das Herzensprojekt der Regierenden angefertigt wird, bevor viel Geld in die Planung fließt. Man hält eine Förderfähigkeit des Projektes durch den Bund für äußerst unwahrscheinlich - damit wäre der Spuk vorbei.
Der Landkreis Dahme-Spreewald hält die U-Bahn zum Flughafen für »sehr wichtig« für eine öffentliche und umweltgerechte Anbindung, wie eine Sprecherin auf nd-Anfrage mitteilt. Zahlen nennt sie dafür allerdings nicht. »Entgegen der bisher vom Land Brandenburg vertretenen Meinung ist der Landkreis Dahme-Spreewald der Auffassung, dass es sich sehr wohl um eine landesbedeutsame Verkehrslinie handelt«, heißt es weiter. Diese »Grundsatzfrage« sei noch nicht geklärt.
Begonnen haben in der vergangenen Woche auch die inhaltlichen Gespräche der Landesregierung mit der Volksinitiative Verkehrswende in paritätischen Arbeitsgruppen. Eine der Forderungen ist, dass der öffentliche Personennahverkehr zur Pflichtaufgabe wird. Dann müsste das Land Brandenburg verbindlich Zuschüsse gewähren, könnte aber auch Bedienungsstandards vorschreiben.
Angesichts der bisherigen Rahmenbedingungen bleibe es das Geheimnis der Koalition aus SPD, CDU und Grünen, wie bis 2030 ein Anteil von 65 Prozent des sogenannten Umweltverbundes aus Bahnen und Bussen, Fahrrad- und Fußverkehr erreicht werden solle, erklärt Linke-Verkehrsexperte Andreas Büttner. Im Jahr 2017 - neuere Zahlen gibt es nicht - lag der gemeinsame Anteil bei gerade einmal 48 Prozent.
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