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Boris Johnson krallt sich fest
Großbritanniens Premier will trotz »Führungsversagens« und »schwerer Regelbrüche« weitermachen
Boris Johnson scheint den Party-Skandal vorerst politisch überlebt zu haben. Der lang erwartete Bericht der Staatsbeamtin Sue Gray, der am Montag veröffentlicht wurde, wartet zwar mit scharfen Worten auf und geht mit der Regierung hart ins Gericht - aber bislang hat sich keine Mehrheit von Tory-Abgeordneten gefunden, die Johnson stürzen wollen. Der Premierminister versprach nach der Publikation des Berichts, er werde »die Sache in Ordnung bringen«, etwa indem er die Arbeitsweise der Regierung verbessere. Das scheint viele Fraktionsmitglieder vorerst überzeugt zu haben.
Gray war beauftragt worden, herauszufinden, welche unerlaubten Feierlichkeiten im Regierungssitz des Premierministers während der Pandemie stattgefunden haben. Die Party-Affäre hatte Johnson in den vergangenen Wochen immer mehr in Bedrängnis gebracht. Gray wählte in ihrem zwölfseitigen Bericht deutliche Worte: »Eine Reihe von diesen Treffen hätte nicht so stattfinden dürfen«, schreibt sie, und das Verhalten in Downing Street 10 sei zuweilen »schwer zu rechtfertigen«. Sie kritisiert die Regierung für Führungsschwäche und fehlendes Urteilsvermögen. Auch bemängelt sie, dass im Regierungssitz eine exzessive Trinkkultur herrsche.
Gray untersuchte insgesamt 16 gesellschaftliche Anlässe im Regierungssitz, darunter auch solche, von denen man bislang noch nichts wusste. Der Grund, weshalb der Bericht so kurz ausgefallen ist, liegt darin, dass mittlerweile die Polizei Ermittlungen zur Party-Affäre eingeleitet hat. Gray darf jene Anlässe, die Teil der Ermittlungen sind, nicht erwähnen. Entsprechend sei die Staatsbeamtin »extrem begrenzt« bezüglich dem, was sie schreiben darf, wie es in ihrem Bericht heißt. »Es ist derzeit nicht möglich, einen aussagekräftigen Bericht vorzulegen.«
Dennoch sind die zwölf Seiten überaus kritisch. Gray weist zwar niemandem individuell direkte Schuld zu, aber sie entlastet Boris Johnson auch nicht. Besonders problematisch für den Regierungschef ist, dass sie gesellschaftliche Anlässe erwähnt, die dieser zuvor geleugnet hatte. Johnson hatte beispielsweise behauptet, dass es im November 2020 keine Partys gegeben habe - Gray schreibt jedoch von gleich zwei Feiern. Beide Anlässe sind jetzt Gegenstand der polizeilichen Ermittlung.
Die Opposition forderte nach der Publikation des Berichts erneut Johnsons Demission. Er solle das »Richtige tun und von seinem Amt zurücktreten«, sagte Labour-Chef Keir Starmer. »Aber natürlich wird er das nicht tun, denn er ist ein Mann ohne Schamgefühl.« Auch aus den eigenen Reihen kam heftige Kritik, etwa von Johnsons Vorgängerin Theresa May: »Entweder haben [Johnson] und seine Mitarbeiter die Covid-Regeln nicht gelesen, oder sie haben sie nicht verstanden, oder sie dachten, sie gelten nicht für sie - was war es?«
Aber Boris Johnson lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der Rücktritt überhaupt nicht in den Sinn kommt. Vor dem versammelten Unterhaus gab er sich von seiner kämpferischen Seite. Er entschuldigte sich zunächst für die Verfehlungen und sagte: »Ich verstehe die Wut der Leute.« Dann aber beteuerte er umgehend, dass er der Mann sei, der die Sache geradebiegen werde. Er kündigte eine Reihe von Umstrukturierungen in der Regierung an, um deren Arbeitsweise zu verbessern.
Erneut schien dem Premierminister jeder Gedanke fern, dass er etwas falsch gemacht habe. Die großspurige Art, mit der er sich im Unterhaus verteidigte, hat auch manche seiner Kollegen vor den Kopf gestoßen. Trotzdem hat sich bislang noch keine ausreichende Zahl Tory-Abgeordneter gefunden, die ihren Chef vom Sockel stoßen wollen.
Die Sache ist noch nicht vorbei. Die polizeilichen Ermittlungen sind erst angelaufen; ob Johnson von den Beamten befragt wird, ist noch nicht klar. Am Montag wurde bekannt, dass die Metropolitan Police 300 Fotos analysieren wird - viel Material, um Gesetzesverstöße zu entdecken. 12 der 16 Partys, die Sue Gray unter die Lupe genommen hat, sind an die Polizei verwiesen worden. Viele Tory-MPs haben durchblicken lassen, dass sie sich ihr Urteil bis zum Ende der strafrechtlichen Untersuchung aufheben werden.
Zudem ist Johnson unter Druck geraten, den Gray-Bericht im Ganzen zu veröffentlichen, wenn die Ermittlungen erst einmal abgeschlossen sind. Am Montag lehnte er dies zunächst ab, nur um wenige Stunden später einzulenken. Wenn der vollständige Bericht weitere verhängnisvolle Enthüllungen enthält, könnte Johnson schnell wieder in der Bredouille sein.
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