Eine revolutionäre Zeitkapsel

100 Jahre »Ulysses« von James Joyce: »Ein irischer Bulle in einem englischen Porzellanladen«

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.

In einem Artikel der Tageszeitung »Irish Times« zum 100. Jahrestag des Erscheinens von James Joyce’ Roman »Ulysses« ging es um die Frage, wie man Joyce zu Geld machen könne. Ein Hindernis sei die Länge des Buches, es wäre allerdings ein Leichtes, das Buch auf die Hälfte zu kürzen. Für Geld verüben manche Leute gerne ein Verbrechen. Zweifellos müsse »Ulysses« als Irlands »Touristenattraktion Nr. 1« betrachtet werden, so hieß es in der führenden irischen Tageszeitung weiter. Doch dies ist nicht mehr als eine Behauptung.

Das Buch »Ulysses«, von László Moholy-Nagy als eine »kubistische Collage« bezeichnet und von Mark Steven als eine »kakophonische Symphonie«, erschien am 2. Februar 1922. Pünktlich zum 40. Geburtstag des Autors trafen die ersten beiden prächtigen »Ulysses«-Exemplare mit dem griechisch-blauen Cover aus Dijon vom Drucker Darantiere in Paris ein. Damit das Opus erscheinen konnte, musste Sylvia Beachs kleiner Buchladen Shakespeare & Company in der Pariser Rue de l’Odéon zu einem Verlag mutieren.

Ein städtischer Pflastertreter ist die Zentralgestalt des Ulysses, des längsten Tages der Weltliteratur: Leopold Bloom, ein Odysseus, ein Annoncen-Akquisiteur, ein Hahnrei und Voyeur mit einer Vorliebe für seidene Damenunterwäsche. Ein Jedermann. Das Leseabenteuer »Ulysses« handelt davon, wie sich Leopold Bloom und Stephen Dedalus zwischen acht Uhr morgens und zwei Uhr nachts unabhängig voneinander sowie manchmal auch gemeinsam durch Dublin bewegen.

Weltweit sind ungezählte Gelehrte mit der professionellen Entschlüsselung dieser ins Universelle gesteigerten Dubliner Odyssee befasst. Dabei wird - bei allen unterschiedlichen Ausdeutungen - »Ulysses« primär vor einer homerischen Folie gelesen. Die vielfachen Parallelen und Korrespondenzen drohen andere Bezüge zu unterschlagen. Nicht weniger bedeutsam ist nämlich die Annahme, dass in »Ulysses« auch der irische literarische Diskurs zu einem geheimen Subtext geworden ist, für den Joyce keinen Schlüssel geliefert hat.

Als ebenso mythische Determinanten hinter den Wanderungen Blooms dienten altirische »imramha«, Geschichten von See- und Reiseabenteuern. Nach dieser Interpretation ist Bloom sowohl griechischer Held als auch irischer Milesier, einer jener Gälen also, die laut dem ab dem 9. Jahrhundert aus heterogenen Materialien kompilierten, eher mythologischen Lébor Gabála Érenn (Das Buch der Einnahme Irlands) einst von Iberia, also von der iberischen Halbinsel, nach Irland gekommen sein sollen. Die hyperpenible topografische Präzision verweist auf die Faszination, die in der irischen Literatur dem konkreten Ort und seiner Namensgebung zukommt.

Andere heben bei ihrer »Ulysses«-Interpretation den ununterbrochenen Bewusstseinsstrom der Figuren oder den inneren Monolog hervor, wieder andere die vielen Shakespeare-Bezüge. Auch für eine queere statt einer heteronormative Lesart wurde längst plädiert.

Joyce erkundet in der »revolutionären Zeitkapsel Ulysses« (Mark Steven) alles, vom kolonialen Nationalstaat und der kapitalistischen Ökonomie bis hin zu Problemen von Klasse, Herkunft, Gender, Sexualität und Glauben. Was nicht durch Blooms Gedanken Ausdruck finden kann, bewältigt Joyce, indem er den Kampf gegen die britische kulturelle Hegemonie in Irland zu einem sprachlichen gestaltet, die englische Sprache mit seiner episodenweise variierten Sprachstilisierung und der wechselnden Erzählperspektive aufsprengt - Ulysses als »irischer Bulle in einem englischen Porzellanladen«, wie es an einer Stelle des Romans heißt.

In der ersten, mit »Stately, plump« (also stattlich-staatlich-beleibt) beginnenden Episode des »Ulysses« hält sich Stephen Dedalus im Martello Tower in Sandycove südlich von Dublin auf. Mit seinem Erzählzyklus »Dubliner« hatte Joyce dem omnipräsenten und omnipotenten irischen Klerus als hauptsächliche Quelle der sexuellen Verkrüppelung des Landes den Krieg erklärt.

In dieser ersten wie auch in den beiden sich anschließenden »Ulysses«-Episoden lässt Joyce seinen Protagonisten gegen die englische Herrschaft in Irland auftreten. Stephen sieht sich als unwilligen Diener zweier Herren, des »imperialen groß-britannischen Staates« und der »heiligen römischen katholischen und apostolischen Kirche«. Ihm werden entsprechende Figuren gegenübergestellt: Die englische Präsenz und deren Auswirkungen verkörpern Stephens Mitbewohner im Turm, der für den Kompromiss mit der fremden Macht stehende Buck Mulligan sowie der Engländer Haines. Gleich zu Beginn stellt Stephen diesem Mulligan die für Joyce im wörtlichen wie im übertragenen Sinn entscheidende Frage: »Wie lange will Haines eigentlich hier noch mit im Turm bleiben?«

Schon auf der ersten Seite des Romans wird die englische Besatzung ins Visier genommen: »Back to the barracks.« Die mehr als ein Dutzend Kasernen der britischen Armee sowie der Royal Irish Constabulary stellten im Dublin des Jahres 1904 eine ständige bedrohliche staatliche Präsenz dar, die direkt vor der Tür lauerte und die Autonomie von Heim und Nation usurpierte, die gerechterweise den Iren selbst zufallen sollte. Georg Goyerts Übersetzung der Aufforderung »Back to the barracks« lautet: »Rin in die Kiste.« Bei Hans Wollschläger wurde daraus: »Huschhusch ins Körbchen.« Und in der korrigierten Wollschläger-Fassung lesen wir nun: »Zurück ins Quartier!« Im Gegensatz zu der dauerhaften Kaserne ist ein militärisches Quartier temporärer Natur.

Den jüdischen Pflastertreter Leopold Bloom lässt Joyce, der zwischen 1904 und 1915 sowie 1919/20 in Triest das jüdische Leben in all seiner politischen und kulturellen Komplexität erleben konnte, gegen zyklopenhaft einäugige und antisemitische Nationalisten auftreten und dann seine eigene, völlig pathosfreie Definition von Nation liefern: »Eine Nation, das sind die Leute, die am selben Ort wohnen.«

Im halluzinatorischen Taumel der phantasmagorischen »Circe«-Episode geht es vor allem darum, die Kolonisierung des Unbewussten aufzuzeigen. Von Bedeutung ist, dass englische Soldaten, die zu dieser Zeit nicht mehr in den Kasernen übernachten mussten, im Dubliner Stadtbild sichtbar sind und randalieren: »Fremde in meinem Haus!« In der in einem Bordell spielenden Episode finden sich allenthalben Spuren des »viehischen Empire«. In »Circe« wird jedoch weniger das Militärische als vielmehr die Anglisierung der kulturellen Sphäre thematisiert. Der betrunkene Stephen wiederholt sein »Non serviam! (...) Ich werd euch schon zeigen, was eine Harke ist.«

Er schlägt mit seinem Eschenstock den Kandelaber kaputt, »zerschmettertes Glas und stürzendes Mauerwerk«, und weiß, dass der Kampf um die Unabhängigkeit im eigenen Kopf beginnt: »Doch hier drinnen steht, dass ich den Priester und den König töten muss.« Mit dem von Bloom gereichten Stock will Stephen jedoch nicht gegen den der englischen Krone dienenden Gemeinen Carr vorgehen: »Stock, nein. Vernunft.« Carr schlägt Stephen nieder. Bloom, der ein Utopia, ein neues Bloomusalem, ausgerufen hat, das ein Kolossalbau in Form einer Schweinsniere werden soll (dem Londoner Crystal Palace allerdings verdächtig ähnlich), nimmt sich seiner an.

Am Ende des Buches lässt Joyce mit Hilfe von Leopolds Frau Molly und ihrem nur aus zwei mal vier, nur durch einen einzigen Punkt getrennten Sätzen bestehenden Monolog die protestantische, britisch-imperiale Felsenfestung Gibraltar belagern. Diese wird von Molly als multikultureller Ort der Lüste evoziert.

Der galizische Kommunist Karl Radek konstatierte 1934 auf dem 1. Panunionistischen Kongress der Sowjetschriftsteller, Joyces Blooms und Dedalusse hätten 1916 auf den Barrikaden gekämpft, den Aufstand gegen die englische Herrschaft organisiert. Joyce beschreibe dies im »Ulysses« allerdings nicht, er liefere keine wahre Filmaufnahme des Lebens, Joyce’ Werk sei »ein von Würmern wimmelnder Misthaufen«. Den irischen Osteraufstand von 1916, der in dem Romangeschehen von 1904 keine Rolle spielen konnte, thematisierte Joyce in seinem 1939 erschienenen Opus magnum »Finnegans Wake«. Mit diesem »Packen paper« beabsichtigte der »old wortsampler« nichts weniger als eine Darstellung von »every person, place and thing in the chaosmos of Alle«.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -