»Diese Apathie entmenschlicht«

Moses Weber ist Rider und fährt für Lieferando. Er wünscht sich einen direkteren Austausch untereinander.

  • Clemens Melzer
  • Lesedauer: 8 Min.
Moses Weber, Lieferando-Fahrer
Moses Weber, Lieferando-Fahrer

Was sind das für Leute, die für Essenlieferdienste aufs Fahrrad steigen?

Moses Weber
38 Jahre alt, fährt seit drei Jahren für Lieferando durch Berlin, um Essen an Wohnungstüren zu liefern. Für ein Gehalt knapp über dem Mindestlohn ist er täglich den Gefahren des Großstadtverkehrs ausgesetzt und hat mit körperlichen Beschwerden zu kämpfen. Um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, engagiert er sich gewerkschaftlich und setzt sich auch für die Belange von Ridern anderer Lieferdienste ein. 

Das sind eher jüngere Leute, die körperlich fit sind. Aber nicht nur Leute, die gern Fahrrad fahren. Es sind immer weniger Menschen mit deutschem Pass, sie kommen vor allem aus Südasien oder Südamerika. Viele finden aufgrund von Sprachbarrieren keine andere Stelle oder nur illegalisierte und noch prekärere Arbeit. Ich mache den Job jetzt seit drei Jahren. Vorher hatte ich einen Studi-Job, da wurde ich aber nach Ende meiner Befristung nicht weiterbeschäftigt, und seitdem sitze ich auf dem Rad.

Als die ersten Essenlieferdienste begannen den Markt zu erobern, wurde kommuniziert, das sei ein Studentenjob.

Das ist meiner Meinung nach eine Erzählung, um Lohndumping zu betreiben. Ich kenne viele, die den Job mehrere Jahre machen und dafür sogar die Länder wechseln. Sie bleiben teilweise nur für ein halbes Jahr in einer Firma, weil die Verträge leider befristet sind oder in der Probezeit gekündigt wird. Ich habe mehrere Kolleg*innen, die in die Niederlande gegangen sind, weil sie alle Lieferdienste in Deutschland schon durchhatten. Sie machen im Grunde denselben Job, nur bei einer anderen Firma, weil diese Unternehmen »Hire and Fire« betreiben. Eigentlich kannst du diese Arbeit aber nicht länger als fünf Jahre machen, sonst gehst du kaputt. Ein Beispiel: Wenn man diesen Rucksack über ein halbes Jahr trägt, entwickeln sich bleibende Schäden. Wenn man sich drei Tage erholen muss, bevor man wieder eine Schicht antritt, dann merkt man: Es muss sich etwas verändern.

Haben Sie weitere Beispiele für Beschwerden, die durch die Arbeit auftreten?

Das betrifft vor allem den Rücken, aber auch die Knie - vom vielen Treppensteigen. Dann gibt es aber auch psychische Leiden, die häufig vergessen werden: Obwohl man sehr viele Menschen sieht, ist man eigentlich alleine. Du fährst durch diesen dichten Verkehr, und du bist in dieser Menge von Unbekannten komplett auf dich allein gestellt. Es gibt Kollegen, die mir erzählen, wenn sie sich nach einer Schicht ausruhen und die Augen schließen, sehen sie Busse auf sich zufahren und haben Unfallangst. Oder sie werden verfolgt von Situationen mit Autofahrern, die zum Teil Rider zusammenschlagen. Einem Kollegen ist das sogar mehrmals passiert. Er hatte in Situationen, die für ihn gefährlich waren, die Autofahrer angesprochen, und die reagieren da gern mal mit Gewalt.

Liefern first, Bedenken second: 15.800 Euro Bußgeld für Lieferdienst Gorillas wegen Verstößen gegen Arbeitsschutz

Sie sagen, Sie fühlen sich vereinzelt. Aber Sie haben ständig mit Kunden zu tun. Was sind das für Begegnungen?

Das sind eigentliche keine echten Interaktionen. Was mich am meisten belastet, sind diese Apathie und die Belanglosigkeit. Dass man wie eine Maschine immer wieder dieselben Abläufe macht - das entmenschlicht.

Ab und zu gibt es positive Momente, mit einem kurzen »Hallo!« oder einem Lächeln. Aber dann gibt es auch die negativen Momente, wenn Leute in ihrer eigenen Welt sind und gar nicht mehr mitbekommen, wie sie andere behandeln. Wenn zum Beispiel draußen stürmisches Wetter ist, bestellen viele und zahlen dann nicht mal Trinkgeld. Oder die Leute kommen nicht zur Tür und pampen einen an, wenn man zweimal klingelt.

Ich habe früher immer, wenn ich selbst etwas bestellt habe, die Postboten empfangen. Es ist ein Minimum an Respekt, dass man seinen Arsch zur Tür bewegt. Oder wenn mal etwas ausgelaufen ist, dann zeigen Leute dir: Ich habe nur ein paar Euro für das Essen bezahlt, und so behandele ich dich auch.

Sollen Kunden jetzt ein schlechtes Gewissen haben und nicht mehr bestellen?

Ich habe viel darüber nachgedacht, was man tun kann, um die Rider zu unterstützen. Eigentlich sind in der gesamten Gastronomie so miese Arbeitsbedingungen. Es wird gern gesagt: Lieber direkt beim Restaurant bestellen. Da würde ich widersprechen und sagen: Lieber beim Lieferdienst bestellen. Denn Arbeitsbedingungen der Rider, die für irgendwelche kleinen Buden ausliefern, sind noch schlimmer. Deswegen ist meine Standardantwort: Hol’s dir selber ab.

Was hat sich durch die Pandemie verändert?

Nicht mehr auf Toilette gehen zu können, die Übergabe am Fenster und die Einführung von Online-Trinkgeld. Davon profitiert am meisten die Firma. Wenn es nicht von der Kohle selber ist, dann von dem Wissen, was wir bekommen. Dementsprechend sinkt unser Lohn, das ist genau so in den USA passiert. Wir bekommen dadurch einen Mix-Lohn, in den das Trinkgeld reingerechnet wird. Deswegen lieber Cash auf die Hand geben.

Viele der Lieferdienste schreiben rote Zahlen. Es werden Milliarden investiert, aber erst mal wird gar kein Gewinn erwirtschaftet. Hat dieses Geschäftsmodell eine Zukunft?

Ich würde sagen, diese Unternehmen machen auf jeden Fall Profit. Man sieht ja bei Amazon, wie die es schaffen, irre Gewinne mit irgendwelchen Verlusten zu verrechnen, um zu verschleiern, wie scheißprofitabel der ganze Logistiksektor ist. Man muss sich das bei den Lieferdiensten auch genauer angucken.

Dazu kommt aber: Ich bin nicht der Meinung, dass ich nur fürs Ausliefern bezahlt werde. Ich werde dafür bezahlt, als lebendige Werbung durch die Stadt zu fahren, meine Daten werden gesammelt, weiterverwertet und verkauft. Und ich werde dafür bezahlt, die Arbeitsbedingungen insgesamt zu verschlechtern. Je mehr es Arbeiter wie mich gibt, desto mehr schaffen diese Unternehmen eine neue Arbeitsrealität, die gesellschaftlich legitim wird. Das ist ein Investitionsziel: schlechte Arbeit.

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Aber ist das nicht ein Widerspruch? Die kleinen Restaurants mit ihren eigenen Lieferdiensten bieten doch noch schlechtere Arbeitsbedingungen, wie Sie selbst gesagt haben.

Nein. Das ist ein Mythos, den auch Lieferando versucht, aufrechtzuerhalten. Ich stehe ja nur für eine Minderheit der Rider. Rider bei Lieferando bringen nur fünf Prozent der Lieferungen. Die Bestellungen kommen über Lieferando, aber die meisten werden von Zeitarbeitsfirmen und Restaurantlieferanten ausgefahren. Das sind letztlich versteckte Subunternehmen, mit denen sich Lieferando aus der Verantwortung zieht.

Als es letztes Jahr den Skandal ums Trinkgeld gab, das nicht bei den Ridern ankam, hat Lieferando gesagt: Das waren die Restaurants! Dieser Mythos funktioniert: Lieferando bezahlt fünf Prozent besser als die anderen, und die Öffentlichkeit glaubt, das gelte für alle. Aber nur fünf Prozent sind entfristet, bekommen 11 Euro die Stunde, nur fünf Prozent steht gesetzlicher Urlaub zu. Food Panda von Delivery Hero ist jetzt ja auch zu einem Subunternehmen von Gorillas geworden.

Seit mehreren Jahren kommt es zu Protesten von Ridern, auch in Berlin. Warum?

Der Grund ist die Entmenschlichung, wenn du bei Unwetter rausgeschickt wirst und weißt, entweder ich riskiere jetzt mein Leben oder ich sage: Das geht so nicht. Gerade gab es im Berliner Senat eine Kleine Anfrage zu Unfällen im Transportgewerbe. Das Ergebnis lautete: Ein Unfall pro Tag in Berlin. Ich bin mir sicher, dazu kommt eine hohe Dunkelziffer. Es gibt die harten Wochen, wo jeden Tag einer von uns verunglückt und im Krankenhaus landet. Es geht also nicht nur um die Höhe des Lohns.

Natürlich regen sich viele über Urlaubszeiteinteilung auf, aber auch da geht es um Entmenschlichung und wie respektlos mit unserer Zeit umgegangen wird. Wir protestieren aber auch, weil es keine andere Möglichkeit zu kommunizieren gibt. Es gibt eine App mit einem Chat, eine Mailadresse und eine Telefonnummer, wo niemand rangeht. Bei E-Mails kriegst du nur mit Glück nach Wochen eine Antwort. Was sind dann deine Optionen?

Was fordern die protestierenden Rider?

Es geht weniger um höheren Lohn als vielmehr darum, dass der Lohn überhaupt gezahlt wird. Wir können es uns nicht leisten, dass der Lohn zu spät ausgezahlt wird, weil wir Rechnungen bezahlen müssen. Ich sage immer: Wenn ich alles bekommen würde, was mir zusteht, dann hätte ich mit meiner Pi-mal-Daumen-Rechnung 30 Prozent mehr auf dem Konto. Wenn ich Fahrrad, Handy und Dienstkleidung gestellt bekomme, wenn Lieferando wirklich für alle Verschleißkosten aufkommt, wenn ich beim Urlaub nicht mehr abgezockt werde und wenn ich für meine vereinbarte Arbeitszeit bezahlt werde, dann hätte ich 30 Prozent mehr. Wenn ich mit meinem Handy fünf Minuten keine Verbindung zum Internet und damit zum Arbeitgeber habe, wird mir die Zeit sofort abgezogen.

Widerstand wirkt: Fahrer von Lieferdiensten haben sich zahlreiche Verbesserungen erkämpft. Die Gewerkschaften haben dabei kaum eine Rolle gespielt

Was würden Sie sich von den Gewerkschaften wünschen?

Dass Methoden speziell für prekäre Arbeitsverhältnisse entwickelt werden. Viele Gewerkschaften sagen immer noch: Dir wurde dein Lohn vorenthalten? Wir können für dich klagen! Das heißt, in einem halben Jahr wird die Klage in der ersten Instanz entschieden, aber meine Miete muss morgen bezahlt werden. Gewerkschaften könnten stattdessen Lohnausfälle ausgleichen, die nicht nur durch Streiks, sondern auch durch Arbeitsplatzverlust zustande kommen. Das sehen wir gerade in Großbritannien beim historischen Streik der Rider von Stuart Delivery, einem Subunternehmen von Just Eat Takeaway, das zu Lieferando gehört. Der Streik dauert jetzt schon über 30 Tage an. Die Gewerkschaft unterstützt die Rider bei jeglichen Lohnausfällen, und sei es, dass sie Trinkgeldverluste haben, weil sie die guten Schichten verlieren.

Ein weiteres Problem bei uns: Die etablierten Gewerkschaften versuchen alles weiterhin nur in deutscher Sprache zu machen. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Rider miteinander reden und nicht nur über Gewerkschaften und Anwälte gehen, um uns auszutauschen.

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