Verzockt

Für Betroffene ist es ein langer Weg aus der Glücksspielsucht

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 9 Min.

Bei manchen Menschen lösen Glücksspiele große Gefühle aus. Das reicht von Spaß und Euphorie bis zu Wut, Trauer und Existenzangst. »Wenn ich zehnmal verliere, dann verfluche ich das Spiel zehnmal«, erzählt ein junger Mann. »Dann ist alles Scheiße. Aber wenn ich beim elften Mal was gewinne, dann geht es mir sofort wieder besser, und ich denke: ›Siehste, es funktioniert doch.‹«

Seinen Namen möchte der schlanke Elektrotechniker nicht nennen. Er schämt sich, weil er seine Sucht nicht unter Kontrolle bekommt. Nennen wir ihn Hendrik. Er sitzt auf einem bequemen Sessel im Gesprächsraum seines Suchttherapeuten Chris Gross und versucht zu erklären, was ihn bei den ersten Besuchen einer Spielhalle so begeistert hat. »Alles leuchtet. Alles ist bunt, piept schön. Die Automaten fand ich schon als Kind toll, sei es Flipper oder auch Pokerautomaten. Da kommt Adrenalin und Euphorie hoch. Das ist der Wahnsinn.«

Die ersten Schritte auf dem Weg in die Sucht hat er im Alter von zwölf Jahren gemacht. Als Jugendlicher hat er dann andere Jungs kennengelernt, die auch gespielt haben, oder gewettet. Viele von ihnen hatten auch Erfahrungen mit Alkohol und Drogen. »Ich komme aus einer normalen Familie, Mittelschicht. Meine Freunde auch. Aber schon damals hatten viele solche Probleme. Bei fast allen hat sich eine Suchterkrankung entwickelt.«

Hendriks Psychotherapeut Chris Gross arbeitet tagsüber in einer Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen. Mindestens 80 Prozent der Betroffenen dort sind Männer. Zudem hat Gross eine eigene Praxis. Abends empfängt er dreimal in der Woche Patienten zur ambulanten Therapie. Geschichten wie die von Hendrik hört er oft. »Gerade Jungen, die in gut situierten Familien groß werden, erleben oft einen enormen Leistungsdruck. Viele scheitern, weil sie den Erwartungen emotional nicht gewachsen sind. Vielleicht hätten sie als Kind mehr liebevolle Zuwendung gebraucht. So entwickelt sich schnell eine Selbstwertproblematik.«

Die Statistiken der Sozialverbände gehen von 200 000 Glücksspielsüchtigen in Deutschland aus, bei einer sehr hohen Dunkelziffer. Chris Gross vermutet, dass es tatsächlich bis zu eine halbe Million Abhängige gibt, zu denen er auch Hendrik zählt. »Er steckt mitten in der Problematik. Mittlerweile ist er therapieerfahren und kennt viele Mechanismen seiner Sucht. Trotzdem ist eine gewisse Scham- und Schulddynamik offensichtlich. Mitunter neigt er dazu, die Dinge zu beschönigen. Eine klare Entscheidung zur Abstinenz fällt ihm noch sehr schwer.«

Während der Therapeut über Hendrik spricht, starrt der regungslos auf den Boden, die Arme vor der Brust verschränkt. Offenbar fühlt er sich nicht wohl mit dem, was er hört. Doch er nickt, als Chris Gross ihn freundlich fragt, ob er zustimmt. »Wenn wir jetzt in ein Casino fahren würden, dann wäre ich sofort ein anderer Mensch. Sie würden mich nicht wiedererkennen. Wenn Sie hundert Euro dabei hätten, würde ich Sie dazu motivieren, das Geld in einen Automaten zu packen. Ich würde Sie davon überzeugen, dass wir heute noch richtig was rausholen können.«

Suchtdruck in der Spielhalle

Keine zweihundert Meter von der Praxis entfernt steht eine Spielhalle. Eine ehemalige Angestellte hat sich dreißig Jahre lang um die Kunden und die Automaten gekümmert. Auch sie möchte ihren Namen nicht nennen. »Ich habe Kaffee gekocht, Geld gewechselt, Automaten aufgefüllt. Alles, was anfällt. Auch Seelsorgerin gespielt. Manchmal habe ich meine Meinung gesagt: ›Meinst du nicht, dass es jetzt reicht?‹ Kurz vor Weihnachten zum Beispiel. Ein Kunde kommt rein, Stammkunde. Er Hartz IV, seine Frau Hartz IV, fünftes Kind unterwegs. Und er wirft immer rein in den Automaten: Lohn, Hartz IV, Kindergeld. Ich sage ihm: ›Wie lange willst du noch so weitermachen? Bald ist Weihnachten. Deine Kinder möchten was zu essen auf dem Tisch haben. Das geht so nicht. Hör auf.‹ Aber der verzockt Haus und Hof.«

Die Frau weiß, wer sich am Automaten in den Ruin stürzt. »Viele sind arbeitslos oder Rentner. Die kommen und stecken ihren letzten Cent rein, regelmäßig. Und nicht nur fünf Euro, sondern fünf-, sechs-, siebenhundert Euro. Wer Glück hat, gewinnt. Selten. Der ein oder andere lässt auch mal den Frust raus.«

Manche Spieler pöbeln das Personal an, einige schlagen auf die Automaten ein. Die Frau kennt solche Symptome des Suchtdrucks. »Aber die Leute sind alt genug. Sie wissen, was sie tun. Natürlich ist das eine Krankheit, genauso eine Krankheit wie Drogensucht, Kaufsucht, Alkoholsucht. Anfangs hatte ich noch Mitleid, aber mit den Jahren prallt das ab.«

Es gab eine Zeit, da wurden Geldspielautomaten »Groschengräber« genannt. Sie zu »füttern« galt als harmloses Vergnügen. Auch damals kam es vor, dass exzessives Spiel zu menschlichen Tragödien führte. Das wurde als schuldhaftes Versagen des Einzelnen ausgelegt. Auch Hendrik fühlt sich schuldig. Es hat lange gedauert, bis er akzeptiert hat, dass er Hilfe braucht. Über ein Jahr nach Beginn der Therapie hat er die Sucht noch längst nicht überwunden. »Wenn ich jetzt vor einem Automaten stehen würde und gewinne, dann ist das Gefühl der Euphorie sofort wieder da. Als Glücksspieler kenne ich kein Limit. Ich werde gierig und will mehr und mehr. Dann verzocke ich wieder alles.«

Für viele Süchtige geht es gar nicht primär um die Gewinnsumme. Sie nutzen das gewonnene Geld sowieso wieder, um weiterzuspielen. Der Therapeut Chris Gross sieht im Spiel den Versuch, auf möglichst schnellem Weg das Gefühl des eigenen Scheiterns zu überwinden. Gerade Männer, die immer wieder Misserfolge erleben, wollen erfolgreich sein. »Aber langfristig gelingt das natürlich nicht. Dauerhaft verliere ich im Glücksspiel immer«, weiß der Psychologe. »Das verstärkt die Symptome der Selbstwertproblematik, und das Spielen wird immer exzessiver. Die eingesetzten Summen werden größer. Die Wertschätzung von Geld geht verloren.« So war es auch bei Hendrik. Anfangs spielte er vielleicht um fünf Euro, aber irgendwann ging es um Tausende.

Moderne Automaten sind so programmiert, dass sie ein zügelloses Spielverhalten provozieren. Verführbare Spieler gelangen in einen Sog, aus dem sie alleine nicht wieder rauskommen. »Auf niedrigeren Einsatzstufen kann man häufiger mal gewinnen«, erklärt Chris Gross. »Das trägt dazu bei, dass Neuspieler angefixt werden, weil die ja in der Regel auf kleinen Einsatzstufen spielen. Wenn es dann später um hohe Summen geht, zwei Euro pro Umdrehungen, fünf Euro pro Umdrehungen, dann sind Gewinne viel seltener.«

Viele Spieler hadern mit unangenehmen Minderwertigkeitsgefühlen. Das Glücksspiel gibt ihnen andere, aufregende Emotionen. Ab und zu fühlen sie sich als Gewinner. Tatsächlich aber ist der Gewinn eine Illusion. Das weiß auch Hendrik: »Eigentlich ist der Glaube an den Gewinn großer Quatsch. Man kann nicht gewinnen, sonst würden die Automaten ja nicht da stehen.«

Euphorie am Computer

Die Pandemie hat die Problematik weiter verschärft. Während die Spielhallen und Casinos geschlossen bleiben mussten, haben viele Menschen immer mehr Zeit vor dem Computer verbracht. Auf Onlineplattformen ist die Zahl der Spieler enorm gestiegen. Auch Hendrik hat sich aufs digitale Glücksspiel eingelassen: »Da gibt es außerordentliche Kicks. Beim Pokern zum Beispiel auf einer Plattform mit ein paar Tausend Menschen. Wer weiter nach vorne kommt, der erlebt eine unvergleichliche Euphorie. Die Gewinnfaktoren lösen gewaltige Impulse aus. Einmal habe ich in ein Spiel viertausend Euro reingesteckt. Ich weiß von Mitpatienten, die online um Zehntausende Euro gespielt haben.«

Dabei handelt es sich um ein gänzlich vom Glück abhängiges Spiel. Trotzdem glauben viele Spieler, dass sie durch ihre Methode zu spielen, zu drücken, die Stopptaste zu betätigen, Einfluss auf die Gewinnaussichten nehmen können. Tatsächlich aber ist das nicht der Fall. Bei Online-Glücksspielen haben die Spieler sogar noch weniger Kontrolle über das Geschehen auf dem Bildschirm als vor den Automaten in Spielhallen. »Vielleicht gewinnst du kurz, aber dann ziehen sie dir das Geld wieder raus«, weiß Hendrik.

Süchtige nehmen das häufige Verlieren in Kauf, um ab und zu ein Gewinnerlebnis und die damit verbundenen positiven Gefühle zu haben. »Eine Voraussetzung für einen Ausstieg aus diesem Sog ist eine Akzeptanz des eigenen Scheiterns«, erklärt der Therapeut Chris Gross. »Du musst die negativen Gefühle aushalten und alternative Wege für dein Leben finden. Nur so kannst du langfristig mit dir selbst zufriedener und glücklicher werden. Aber das dauert oft mehrere Jahre. Diese große Zeitspanne wirkt auf viele Patienten geradezu übermächtig. Es gelingt ihnen nicht, den schmerzlichen Gefühlen so lange standzuhalten.«

Hendrik ist sich bewusst, welch hohen Preis er zahlt, wenn er trotz zunehmender Schulden immer weiter spielt. Sein Verhalten kann sogar lebensgefährlich sein. Die Suizidrate unter Glücksspielabhängigen ist die höchste aller Suchtbereiche. Chris Gross sagt, ungefähr neun Prozent aller glücksspielsüchtigen Menschen versuchen, sich das Leben zu nehmen. »Zudem ist die Straffälligkeit im Glücksspielbereich die höchste. Denn bei zunehmender Suchtdynamik nimmt natürlich auch der Druck zur Geldbeschaffung massiv zu. Somit sind nicht nur die psychosozialen, sondern auch die gesellschaftlichen Folgen von Glücksspielsucht immens.«

Hendrik wollte jahrelang nicht wahrhaben, dass ihn das Glücksspiel krankhaft abhängig macht. Erst als der Leidensdruck so groß war, dass er überhaupt nicht mehr wusste, wie er sein Leben wieder in den Griff bekommen sollte, gestand er sich ein, dass er etwas tun muss. »Ich bin in eine Beratungsstelle gegangen und habe ein Gespräch geführt. Da haben wir zusammen eine Analyse gemacht: Warum? Wieso? Weshalb? Und was kann ich tun, um das zu ändern?«

Schon bald war klar: Hendrik braucht eine stationäre Behandlung. In der Klinik fand er vor allem die Gruppengespräche hilfreich. Er erkannte die Symptome der Sucht, indem er das Verhalten der anderen in der Gruppe analysierte. »So sind mir die typischen Ausflüchte sehr bewusst geworden, die Verteidigungsstrategien, das Nicht-wahrhaben-wollen. Wenn ein Mitpatient seine Sucht abgestritten hat, dann wurde er von einem Therapeuten darauf hingewiesen: ›Jetzt vermeiden Sie es wieder, die Tragweite Ihrer Entscheidung anzuerkennen.‹ Das alles ist mir bei anderen sehr bewusst geworden, aber wenn ich dann selber wieder in der Spielsituation war, habe ich das wie einen Film erlebt, aus dem ich nicht rauskomme. Dann habe ich einfach weitergemacht.«

Nach einer sechswöchigen stationären Therapie ist es wichtig, dass die Patienten ambulant Unterstützung erhalten. Deshalb kommt Hendrik jede Woche in die Praxis von Chris Gross. Der fordert ihn immer wieder auf, ehrlich zu sein. Zu Beginn jeder Sitzung soll er sagen, wie die Woche verlaufen ist. »Das hilft mir, meine Entscheidungen zu reflektieren«, sagt Hendrik. »Manchmal will ich nicht anerkennen, was ich getan habe, wie ich mein Verhalten ändern muss. Das höre ich zwar nicht gerne, aber es gibt mir die Möglichkeit, an mir zu arbeiten.«

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Für Hendrik ist es nicht leicht zuzugeben, dass er trotz intensiver Therapie immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt. »Wenn ich Sachen erlebe, die nicht so gut laufen, sei es in meiner Partnerschaft, mit der Familie oder vor allen Dingen mit mir selbst, dann ist es wichtig, dass ich das ertrage und mich damit auseinandersetze. Aber das fällt mir enorm schwer. Dann ist der Griff zum Handy mit einer Spiel-App viel einfacher.«

Hendriks Weg ist noch lang, aber die Therapie tut ihm gut. Er möchte durchhalten. Eines Tages will er sich wieder frei fühlen, ohne Suchtdruck.

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