- Kultur
- Theodor Lessing
»Auch wenn alle dafür sind, bin ich dagegen«
Vor 150 Jahren wurde der ungeliebte Denker und Schriftsteller Theodor Lessing geboren
Dem, der das Leben des Theodor Elchanan Lessing überblickt, mag ein Spruch des Schriftstellers H. C. Artmann in den Sinn kommen: Er sei, sagte Artmann über sich selbst, ein Verächter der Obrigkeit, ein Brechmittel der Linken, ein Juckpulver der Rechten und Schwiegereltern unbehaglich. Bei Lessing tritt hinzu: Ein rotes Tuch war er den Antisemiten, ein Buhmann nicht wenigen Juden. Kurz, er war eine der unbeliebtesten Persönlichkeiten vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Lessing, vor 150 Jahren in Hannover geboren, hatte erst mit seinem autoritären Vater, dann mit seinen autoritären Oberlehrern zu schaffen; Letzte zählten für ihn zu dem »Männertyp, der beständig männert«. Auch dass sein bester Freund in dieser schweren Zeit Ludwig Klages war, verhieß nichts Gutes. Der Rausch- und Lebensphilosoph Klages setzte Lessing, dessen zweiflerischer Pessimismus ihm unangenehm wurde, mit den Worten vor die Tür, er sei ein »ekeliger, zudringlicher Jude«.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Bereits wenige Jahre zuvor hatte Lessing für Oskar Panizza Stellung bezogen. Panizza, der ätzende Widersacher der wilhelminischen Gemütlichkeit, wurde wegen »Vergehen wider die Religion« zu einem Jahr Einzelhaft verurteilt. Lessing: »Es heißt, man solle nicht verletzen, was einem andern heilig sei, das sei Pflicht der Pietät gegen den Menschen. Nun, das heißt ganz einfach, man solle lebenslang überhaupt gänzlich das Maul halten. Denn wo gibt es einen haarsträubenden Unsinn, einen raffinierteren, abominablen Blödsinn, der nicht Hunderttausenden heilig wäre?« (»Der Fall Panizza«, 1895) Nachdem er dies in Druck gegeben hatte, durchsuchte die Polizei seine Wohnung. Anderen wäre es eine Lehre gewesen, Lessing war es ein Anfang. Es fragt sich: Warum?
Lessing hatte erkannt, dass er als Jude »auf verlorenem Posten« stand. Zwei Möglichkeiten boten sich: Still bleiben oder schreien. Lessing entwickelte aus der Randstellung des Juden eine politische Philosophie. Weil ein Jude wisse, was Ausgrenzung bedeute, müsse er sich für die Emanzipation der Frauen einsetzen. Und weil ein Jude das Ghetto kenne, müsse er die Proletarier aus dem ihren führen.
Der Standpunkt mag wackelig sein, immerhin ist es ein Standpunkt, und von diesem aus sah er weiter als andere. Ein Jahr vor der Machtergreifung und der eigenen Ermordung schrieb er: »Ihr wollt uns den gelben Fleck der Schande anheften. Tut es. Wir tun es selbst. Freiwillig. Wir tragen ihn als Ehrenzeichen.« (»Die Unlösbarkeit der Judenfrage«, 1932)
Doch hatte es einiger Kämpfe, auch mit sich selbst, bedurft, bevor er so klar werden konnte. Was er als »Der jüdische Selbsthass« (1930) beschrieb, war zunächst der seine. So gehört zu seinen Skandalen, dass er 1910 in eine Attacke gegen den Kritiker Samuel Lublinski antisemitische Töne einfließen ließ (»Mauschelte mit den Ärmchen seine Gedanken in die Luft«). Interessanterweise scherte sich Lublinski wenig darum, während sich zugleich ein Anti-Lessing-Komitee bildete, eines der vielen, die noch kommen sollten.
Besonders unglücklich fiel die Erwiderung Thomas Manns aus, der Lessing daran erinnern zu müssen glaubte, er sei doch selbst kein »Urbild arischer Männlichkeit«. Derselbe Thomas Mann hatte die Verfolgung von Panizza gutgeheißen und sollte nach der Ermordung Lessings fröstelnd notieren: »Mir graust vor solch einem Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir.«
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges verkündete Lessing sein »Et si omnes ego non« (Auch wenn alle dafür sind, bin ich dagegen). Zwar glaubte er, das, was er noch spät den »Imperialismus des schlauen England« nannte, habe den Krieg angezettelt; eine Verschiebung einer antikapitalistischen Analyse ins Ressentiment. Aber an seiner Ablehnung des »grässlichen Unsinns« Krieg ließ er keinen Zweifel.
In seinem Pamphlet »Krieg und Armut« (1914) taucht, in der Abrechnung mit den kriegsbesoffenen Literaten, bereits die Figur einer »logificatio post festum« auf, also einer Rechtfertigung nach der Tat, die zum Grundgedanken seines Hauptwerks wird: »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« (1919).
Geschichte ist ihm darin eine Abfolge sinnloser Grausamkeiten, denen nachträglich ein Sinn angedichtet wird. Es versteht sich, dass er sich mit diesem Werk keine Freunde unter den hegelianischen Linken machen konnte, obwohl er bekennender Sozialist war. »Wenn nämlich Geschichte den Fortschritt verbürgt, dann kann jede zur Herrschaft gelangte Macht ruhig sich auf dem Glauben schlafen legen, zeitweiliger Gipfel eines notwendigen Naturprozesses zu sein und somit doch ihre Gewalt auch als ihr Recht genießen.«
Die Jahre 1914 bis 1918 hatten einen enormen Fortschritt der »Metzger- und Abschlachttechnik« gebracht, zugleich einen erschütternden Rückschritt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Glaube an den Fortschritt ließ sich davon so wenig zügeln wie von den Katastrophen, die folgten. Nicht umsonst nennt sich die derzeit Deutschland regierende Koalition eine des »Fortschritts«. Lessing hätte gewusst, dass aus diesem Fortschritt für die unteren Klassen ein Rückschritt werden muss.
Seine größten Skandale seien bloß angerissen: Als Beobachter des Prozesses gegen den Knabenmörder und Polizeispitzel Fritz Haarmann forderte er, auf dessen Grabstein zu schreiben: »Unser aller Schuld«. Zu der Zeit, als Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg 1925 zum Reichspräsidenten gewählt wurde, nannte ihn Lessing in einem ansonsten ungewöhnlich freundlichen Porträt eine geistige Null. Leider habe es sich bereits erwiesen, dass »hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht«. Nachdem er ihnen so die Wahrheit gesagt hatte, prügelten ihn die Hannoveraner Studenten aus dem Lehramt.
In Deutschland konnte er sich bald nicht mehr halten. Er zog sich in die Tschechoslowakei zurück, die Nazis setzten 80 000 Reichsmark auf seinen Kopf aus, am 30. August 1933 erschossen ihn drei Attentäter in Marienbad (Mariánské Lázně) hinterrücks.
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