- Berlin
- Nahverkehr
Lieber kommunal als privat
Initiative Eine S-Bahn für Alle gibt einen Stopp der Betriebsausschreibung nicht auf
Es ist durchaus ein rhetorisches Kunststück, das sich da im Berliner Koalitionsvertrag zur S-Bahn findet: »Die Koalition verfolgt unabhängig von der Ausschreibung das Ziel einer Kommunalisierung der S-Bahn.« Zwei sich zumindest mittelfristig widersprechende Vorhaben stehen zusammen in einem Satz.
Kommunalisierung, das will auch Jorinde Schulz von der Initiative Eine S-Bahn für Alle - aber als Maßnahme, um einen Abschluss des ausgeschriebenen Wettbewerbsverfahrens zu verhindern. Die mit der Ausschreibung einhergehenden Gefahren hat Schulz, die auch Mitglied im Bezirksvorstand der Neuköllner Linkspartei ist, am Mittwochabend bei einer Veranstaltung der Hellen Panke, des Berliner Bildungsvereins der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, erläutert.
Denn ab 2027 könnte es sein, dass die S-Bahn Berlin GmbH nicht mehr das gesamte Netz bedient. Während die Deutsche-Bahn-Tochter die Ringbahn bis 2035 betreibt, sind die weiteren Netze Stadtbahn sowie Nord-Süd aktuell Teil eines komplexen Wettbewerbsverfahrens, an dessen Ende Aufträge in Höhe von insgesamt circa acht Milliarden Euro winken. So kann sich gesondert auf den 15-jährigen Betrieb der Einzelnetze beworben werden, ebenso lediglich auf die Beschaffung der neuen Züge oder auch auf das Gesamtangebot. Dass neben der von der S-Bahn Berlin GmbH betriebenen Ringbahn beispielsweise zwei andere Anbieter künftig die weiteren Netze betreiben und wiederum ein anderer Anbieter die Beschaffung der Züge übernimmt, wird so theoretisch möglich.
Berlin riskiert Zerschlagung der S-Bahn
»Mit dieser Ausschreibung riskiert Berlin, dass das einheitliche Netz zerschlagen wird«, sagt Jorinde Schulz. Eine lange Liste an Nachteilen zählt sie auf. So würde Chaos drohen, wenn sich künftig mehrere Betreiber abstimmen müssten. Die Aufteilung des Netzes würde zulasten der Beschäftigten gehen, da lediglich die bisherigen Entgelttarife für etwaige neue Betreiber gelten würden und gewerkschaftlich erkämpfte Sonderregelungen verloren gingen. Auch Doppelstrukturen könnten entstehen, argumentiert Schulz. Ein Beispiel: Falls ein neuer Anbieter die Ausschreibung für die Instandhaltung der Züge gewinnt, bräuchte es auch zusätzliche Werkstätten, weil die Deutsche Bahn ihre nicht für die Konkurrenz hergeben würde.
Vergabegesetz zwingt zur Ausschreibung
Die Initiative Eine S-Bahn für Alle wirbt deshalb für einen Abbruch der Ausschreibung. Doch Schulz weiß auch, dass Berlin nach dem Vergabegesetz gezwungen ist, auszuschreiben. Eine Direktvergabe sei nur an einen landeseigenen Betreiber möglich. Der Senat solle sich deshalb für einen Einstieg des Landes in die S-Bahn Berlin GmbH einsetzen, fordert Schulz. Andere halten das für aussichtslos, die Deutsche Bahn hätte kein Interesse an einem Verkauf, so die Argumentation.
Kommunal statt national Ralf Hoffrogge über Vergesellschaftung und ein Wirtschaften nach Corona
Dass in solchen Einzellosen ausgeschrieben wurde, hätte auch »ideologische« Gründe, sagt Schulz: »Der Wettbewerb auf der Schiene ist oft ein Ziel an sich.« Das umstrittene Verfahren wurde immer wieder damit begründet, dass bei einer Ausschreibung des gesamten Netzes inklusive der Beschaffung der Züge andere Bewerber gegenüber der Deutschen Bahn weitestgehend chancenlos wären und Letztere somit die Preise diktieren könnte. Deshalb sieht das aktuelle Verfahren auch vor, dass eine landeseigene Gesellschaft den künftigen Fahrzeugpool selbst kauft und diesen an die Betreiber vergibt.
Die ehemalige Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) jubelte im Mai 2020, die Ausschreibung sei »der Schlussstrich unter die S-Bahn-Krise von vor einem Jahrzehnt mit all ihren Nachwirkungen«. Ab 2009 kam es zu massiven Ausfällen im S-Bahn-Verkehr, unter anderem auch weil die Deutsche Bahn im Zuge eines geplanten Börsengangs katastrophale Einsparungen bei Personal und Instandhaltung vornahm.
Führt Wettbewerb zu neuem Sparkurs?
Ein Fahrdienstleiter, der an der Veranstaltung am Mittwoch teilnahm, befürchtete, dass eine Aufteilung der Netze gerade das Gegenteil von Günthers Ankündigung bedeuten könnte und die Betreiber im S-Bahn-Verkehr aufgrund des gesteigerten privatwirtschaftlichen Wettbewerbs wieder zu Sparmaßnahmen gezwungen wären. »Dass die S-Bahn wieder läuft, liegt nicht an der Politik, sondern an uns, weil wir fahren wollen«, sagte er.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.