Schluss mit queerpolitischem Stillstand

Tessa Ganserer ist trans und setzt sich im Deutschen Bundestag für die Rechte queerer Menschen ein. Denn es gibt noch viel zu tun

Tessa Ganserer ist nicht wie die meisten Politiker*innen. Statt um den heißen Brei zu reden, spricht die Grünen-Abgeordnete während unseres Videogesprächs deutliche Worte: »Es kann nicht allein Aufgabe von marginalisierten Personengruppen sein, gegen Diskriminierung vorzugehen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in der alle gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Rote Karte zeigen müssen.« Mit Nachdruck betont sie, dass queere Menschen in Deutschland in wirklich allen Lebensbereichen Diskriminierungserfahrungen machen. Und sie weiß, wovon sie redet. Denn auch das unterscheidet die Politikerin von der Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag: Zusammen mit ihrer Parteikollegin Nyke Slawik ist Tessa Ganserer die bislang erste Bundestagsabgeordnete, die offen trans ist. Bereits 2019 gab die damals im Bayerischen Landtag sitzende Politikerin bekannt, dass sie von nun an als Tessa Ganserer angesprochen werden will. Damals wie heute sind unter anderem queerpolitische Fragen und Kämpfe Teil ihrer Arbeit als Abgeordnete.

Die leidenschaftliche Kaffeetrinkerin hat vor diesem morgendlichen Gespräch schon mehrere Tassen getrunken, wie sie verrät. Eine Gewohnheit in einem Alltag, der erst nach und nach eine Routine bekommt: »Die parlamentarische Arbeit mit Ausschusssitzungen und dergleichen hat mit dem neuen Jahr erst so richtig begonnen«, erklärt Ganserer. Seit September 2021 sitzt sie für die Grünen im Deutschen Bundestag und werde etwa die Hälfte des Jahres in Berlin verbringen. »Den Rest der Zeit verbringt man dann im Wahlkreis mit entsprechenden Terminen.« Gemeint ist Nürnberg-Nord. Über den Bundestagswahlkreis erhielt Ganserer auch ihr Direktmandat und zog über den Landeslistenplatz 13 in den Bundestag ein.

Kampf gegen das Transsexuellengesetz

»Wie oft und wie masturbieren Sie?« Solche und weitere äußerst private Fragen müssen sich Menschen in Deutschland gefallen lassen, die ihren Geschlechtseintrag und Vornamen ändern lassen wollen. Geregelt werden diese Personenstandsänderungen durch das Transsexuellengesetz (TSG). Seit vielen Jahren wird das Gesetz als diskriminierend kritisiert, Teile davon wurden in Karlsruhe bereits als verfassungswidrig erklärt.

Die 17-jährige Emma Kohler versucht deswegen, mit einer Petition Druck auf die Politik auszuüben. »Nachdem die Große Koalition ihren eigenen Koalitionsvertrag gebrochen hat und der Bundestag kein neues Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht hat, fordere ich nun von der neuen Bundesregierung die Abschaffung des Transsexuellengesetzes. Wir brauchen ein Selbstbestimmungsgesetz. Und das noch dieses Jahr«, so Kohler. Sie hält die jetzigen Regelungen für »moralisch verwerflich«. Laut TSG darf eine trans Person ihren Vornamen ändern, wenn diese »seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben«.

Zudem schreibt das Gesetz zwei Sachverständigengutachten vor, die in der Regel nicht nur teuer sind, sondern bei denen viele trans Menschen von erniedrigenden Fragen bezüglich Kindheit, Beziehungen und Sexualität berichten. »Das Gesetz unterliegt der Logik von ›Fremdbestimmung‹ und schreibt Pathologisierung fort«, so Kohler. Sie betont auch, dass keine Ärzt*in, keine Gutachter*in, kein Gericht besser über die Geschlechtsidentität einer Person Bescheid weiß als diese selbst.

Am Sonntag hatten bereits über 78 000 Personen die Petition auf change.org unterzeichnet. Weil trans Rechte Menschenrechte sind und Menschenrechte sind nicht verhandelbar, so der Petitionstext. »Wir brauchen Selbstbestimmung und wir brauchen sie noch dieses Jahr!«

Selbstbestimmung für trans Personen

Ganserer hat sich für die kommenden vier Jahre im Bundestag viel vorgenommen. Es ist ja auch viel zu tun: Noch immer dürfen nicht alle Männer, die Sex mit Männern haben, Blut spenden. Nur jene, die in einer dauerhaften monogamen Beziehung leben oder mindestens vier Monate keinen Geschlechtsverkehr hatten, sind von dem Blutspendeverbot ausgenommen. Lesbische Mütter werden durch das geltende Abstammungsrecht benachteiligt, weil sie in einer Ehe nicht wie bei heterosexuellen Paaren automatisch beide zu Elternteilen werden, sondern Adoptionsverfahren durchlaufen müssen. Zudem haben es 2021 die damaligen Regierungsparteien SPD, CDU und CSU im Bundestag abgelehnt, das Transsexuellengesetz (TSG) durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen und damit die Pathologisierung und Diskriminierung transgeschlechtlicher Menschen zu beenden.

Die Abschaffung des TSG durch die Ampelkoalition dürfte auch eines der Herzensthemen Tessa Ganserers sein, die es aufgrund des menschenunwürdigen Verfahrens abgelehnt hat, ihren Personenstand ändern zu lassen. »Ich werde mich nicht vor einen Richter stellen, um mir intimste persönliche Fragen zu meinen frühkindlichen Erlebnissen, meinen sexuellen Präferenzen und Partnerinnen gefallen lassen, damit er für diesen Staat entscheiden kann, dass ich die Frau bin, die ich schon immer war«, sagte sie 2019 gegenüber »T-Online«.

16 Jahre Stillstand

Die Queerpolitik der Großen Koalition unter Merkel kommentiert sie mit den Worten »16 Jahre Stillstand«. Sie wird sich als stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuss um queerpolitische Themen kümmern und begrüßt, dass es mit ihrem Parteikollegen Sven Lehmann nun auch den ersten Queer-Beauftragten der Bundesregierung gibt. Und das Vorhaben, einen Aktionsplan für den Schutz und die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu erarbeiten. Sie stockt kurz, als würde sie überlegen, ob sie das folgende wirklich erzählen kann oder als ob es sie selbst auch wieder emotional berühren würde. Vielleicht kramt sie auch nur im Gedächtnis nach Erinnerungen von dem Tag: »Als der Koalitionsvertrag öffentlich präsentiert wurde, habe ich viele Telefongespräche geführt und da haben Menschen am Telefon geweint«, erzählt Ganserer schließlich. »Weil sie sahen, dass sich eine deutsche Bundesregierung endlich aktiv für die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten, auch von queeren Menschen einsetzen wird und entschieden gegen Diskriminierung vorgehen möchte.«

Ganserers Ziel für diese Legislatur: »Am besten den Koalitionsvertrag eins zu eins umsetzen«, sagt sie mit einem Lachen im Gesicht und konkretisiert: »Für mich ist ein Dreiklang aus Klimaschutz, sozialer Gerechtigkeit und Engagement gegen Hass, Gewalt und Diskriminierung wichtig. Dass es uns gelingt, die jetzt notwendigen Entscheidungen zu treffen, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten, die ökologische Transformation der Wirtschaft auch mit mehr soziale Gerechtigkeit zu verbinden und drittens für ein gutes gesellschaftliches Miteinander zu sorgen.«

Denn auch, wenn Ganserer oft zum Thema Transgeschlechtlichkeit in der Öffentlichkeit steht, ist das bei weitem nicht ihr einziges Politikfeld. 1998 trat sie der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei. Eine Entscheidung, die sie als »sehr bewusst« beschreibt. »Damals stand die erste Bundestagswahl bevor, bei der ich selbst wählen gehen durfte und ich kannte mehr oder weniger nur 16 Jahre Kohl-Regierung.« Für sie war ein gesellschaftlicher und ökologischer Aufbruch in der Bundesrepublik überfällig und zu diesem habe sie im Rahmen ihrer Möglichkeit einen Beitrag leisten wollen. »Ich wollte mehr tun, als nur das Kreuzchen auf dem Wahlzettel abzugeben. Deswegen war für mich klar, dass ich meine politische Heimat bei den Grünen finden werde.« 2008 kandidierte sie erstmals für den Bayerischen Landtag und war dort schließlich von 2013 bis 2021 unter anderem in den Landtagsausschüssen für Wirtschaft und Medien, Infrastruktur, Bau und Verkehr, Energie und Technologie tätig und betreute die Mobilitäts- und Forstpolitik der Grünen-Fraktion. Mittlerweile ist sie Mitglied im Umweltausschuss des Bundestags und behandelt dort Themen wie Bodenschutz, Waldnaturschutz und Emissionsschutz.

Begeisterte Wanderin

Tessa Ganserer mag es also grün, auch privat: Aufgewachsen im Bayerischen Wald, machte sie eine Berufsausbildung in der Forstwirtschaft, war im Garten- und Landschaftsbau tätig und schloss 2005 ihr Studium der Wald- und Forstwirtschaft an der Fachhochschule Weihenstephan ab. Auch heute noch liebt Ganserer die Natur und geht gern wandern - mehrere Stunden, ohne elektronische Geräte und gern allein. »Ich entdecke sehr gern immer wieder neu Landschaften und Touren«, sagt die 44-Jährige und ist überzeugt, dass es auch in Berlin-Brandenburg »für mich als begeisterte Wanderin die nächsten Jahre sehr viel zu entdecken gibt«. Dennoch: Nach wie vor ist es ihre alte Heimat, der Bayerische Wald, wo sie am liebsten Touren macht. »Für mich ist das Wandern viel mehr als jede andere Betätigungsform die beste Gelegenheit, wirklich runter zu kommen.« Eine schöne Wanderung beginne für sie bei zwei Stunden Gehzeit, zwölf bis 20 Kilometer lang, erzählt Ganserer mit merklich entspannter Stimme. Als würden die Gedanken daran bereits Sehnsüchte auf die nächste Tour hervorrufen. »Das sind für mich Momente, in denen ich im wahrsten Sinne des Wortes erden kann und Kraft tanken kann«, erzählt Ganserer weiter.

Kraft, die man im politischen Alltag dringend braucht. Erst recht, wenn dieser wie bei Ganserer auch geprägt ist von Anfeindungen und Hass, bis hin zur Infragestellung der eigenen Identität. Letzteres erfährt sie durch die Initiative »Geschlecht zählt«. Sie unterstellt Ganserer Wahlbetrug und Vortäuschen falscher Tatsachen. Zahlreiche Frauen hätten bereits Klage vor dem Wahlprüfungsausschuss eingereicht, so die Initiative. Denn Ganserer ist über den Listenplatz einer Frau in den Bundestag gekommen, obwohl ihr Personenstand etwas anderes sagt. Sie habe unter »Behauptung falscher Tatsachen« einen Platz erschlichen, so der Vorwurf, den auch das Magazin »Emma« in einem Artikel aufgriff.

Transidentität ist ein Fremdwort - Für transidente Menschen ist es nicht einfach, eine medizinische Behandlung zur Geschlechtsangleichung zu beginnen. Im Gefängnis verschärft sich die Situation.

Transfeindliche Angriffe

Zu den Vorwürfen der Initiative hat Ganserer klare Worte: »Das bewusste in Abrede stellen der Geschlechtszugehörigkeit einer Person ist keine Meinung, über die man diskutieren kann, sondern damit werden Grundrechte abgesprochen«, sagt sie und redet sich dabei auch ein wenig in Rage. Sie wirkt wütend. Kein Wunder, immerhin geht es um ihre Identität und ihr grundrechtlich geschütztes Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Äußerungen der Initiative und der »Emma« stießen auch im Netz auf heftige Kritik. Vor allem der Gebrauch des falschen Pronomens und das Deadnaming, also die Verwendung des abgelegten Namens, werden als transfeindlich kritisiert.

Es sind sicherlich auch solche Diffamierungen, weswegen Ganserer schon manchmal denkt, »wäre ich doch nur draußen im Wald bei meinen Bäumen geblieben. Weil Bäume einfach keine Meinung über uns haben.« Dennoch freue sie sich, die nächsten vier Jahre Politik im Deutschen Bundestag mitgestalten zu dürfen. »Das wird eine sehr arbeitsintensive, ereignisreiche, aber bestimmt auch sehr schöne Zeit«, sagt sie. Vor allem sieht sie die Grünen-Fraktion mit Kolleg*innen wie Sven Lehmann, Nyke Slawik, Ulle Schauws oder auch Max Lucks queerpolitisch hervorragend aufgestellt. »Nach vier Jahren werden die Karten neu gemischt und dann werde ich sehen, was das Leben noch so für mich vorbereitet. Da lass ich mich überraschen.«

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