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Gregor Gysi: »Der Westen muss eigene Forderungen an Russland stellen«
Linke-Außenpolitiker Gregor Gysi plädiert dafür, Sicherheitsinteressen von Moskau ernst zu nehmen und Verhandlungen darüber zu ermöglichen
Wie groß ist angesichts der derzeitigen Truppenaufmärsche die Kriegsgefahr in Osteuropa?
Ich glaube und hoffe nicht, dass es soweit kommt. Einige sprechen nur über die Sicherheit der Ukraine, die anderen über eine neue Sicherheitsordnung in Europa. Man muss sich bei Verhandlungen verständigen, worum es überhaupt geht. Wladimir Putin will einen Sicherheitsabstand. Aber die Nato will Russland diesen nicht zubilligen. Weitere Forderungen aus Moskau sind, die US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen und bestimmte Manöver nicht abzuhalten. Die Nato sollte nun auch Forderungen stellen: Keine Cyber-Angriffe von Russland mehr, Anerkennung der Souveränität aller Nachbarstaaten und keine Manöver in bestimmten Gebieten. Dann wäre der Punkt erreicht, an dem beide Seiten in Verhandlungen miteinander eintreten könnten. Die westliche Seite lehnt aber Russlands Forderungen nur ab und die Situation spitzt sich dadurch zu.
Müsste der Westen also auf die russischen Forderungen eingehen?
Nein, zunächst müssten eigene Forderungen gestellt werden. Der nächste Schritt wären Verhandlungen, in denen sich die Gesprächspartner gegenseitig entgegenkommen und eine Verständigung erzielen auf der Grundlage des Völkerrechts. Das Problem ist aber, dass der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges so stark war, dass er dachte, er brauche das Völkerrecht nicht mehr. Ich nenne hier nur den Krieg der Nato gegen Jugoslawien 1999 und die Abtrennung des Kosovos. Später führte eine Allianz unter Führung der USA einen Krieg gegen den Irak, für den es ebenfalls kein UN-Mandat gab. Nun ist das Nato-Mitglied Türkei in syrische Gebiete einmarschiert. Natürlich war das russische Vorgehen auf der Krim ebenfalls völkerrechtswidrig, aber das geschah nach mehreren Völkerrechtsbrüchen westlicher Staaten.
Die Bundesregierung ist diplomatisch bemüht. Macht sie einen guten Job?
Ich glaube, dass Annalena Baerbock früher einseitiger war als heute. Als Außenministerin spielt sie eben eine andere Rolle. Kanzler Olaf Scholz hat zu lange gezögert. Aber beide sind noch nicht lange im Amt. Die erste Einschätzung von mir gibt es erst nach 100 Tagen.
Sie haben einen Aufruf der Friedensbewegung unterzeichnet, in dem es heißt, dass Russland kein Interesse an Krieg habe und die Umsetzung von Minsk II hauptsächlich von der Ukraine blockiert werde. Was sagen Sie zum Vorwurf, Sie seien zu nachsichtig gegenüber Wladimir Putin?
Im Unterschied zu anderen habe ich noch nie ein Wort mit Herrn Putin gewechselt und bin deswegen auch kein Putin-Versteher. Ich kritisiere durchaus die Vereinnahmung der Krim. Im Abkommen Minsk II steht aber, dass Donezk und Luhansk eine Autonomie gewährt werden soll und Wahlen unter Aufsicht der OSZE stattfinden müssen. Das hat die Ukraine bis heute nicht umgesetzt. Dabei ist das nach dem Abkommen die Voraussetzung dafür, dass sich die Soldaten zurückziehen. Mich ärgert dabei, dass der Westen immer nur Russland kritisiert und nie sagt, dass die Ukraine diese Punkte aus dem Abkommen erfüllen muss.
Sie lehnen Sanktionen gegen Russland ab. Im Gespräch ist diesbezüglich immer wieder Nord Stream 2. Warum braucht Deutschland diese Pipeline?
Die Energiepreise steigen gewaltig, weil wir zu wenig Erdgas haben. Es sind Milliarden für diese Leitung ausgegeben worden. Das wäre alles umsonst, wenn sie nicht in Betrieb geht. Nord Stream 2 ist auch notwendig, weil die Ukraine früher Gas aus der Leitung gestohlen hat, die durch ihr Land geht. Nord Stream 2 geht Washington nichts an. Der zweitgrößte Erdölexporteur an die USA ist Russland. Daran soll sich nichts ändern. Zugleich verlangt Washington das Ende von Nord Stream 2, um Fracking-Gas in Deutschland zu verkaufen.
Auch Polen ist gegen die Pipeline. Spaltet das Projekt die EU?
Polen ist dagegen, weil es nicht beteiligt ist. Sie wollen, dass mehr Gas durch ihr Land fließt und sie bei Bedarf den Gastransfer auch stoppen können. Die Regierungen in Polen und Ungarn schaffen schrittweise Medienfreiheit und Rechtsstaat ab. Ich glaube, dass die Gefahr für die EU eher von solchen Entwicklungen ausgeht.
Sie sind offen für EU-Beitrittsgespräche der Ukraine. Was erhoffen Sie sich davon?
Wenn es solche Gespräche gäbe, könnte kein anderes Land mehr so einfach in die Ukraine einmarschieren. Weil die Werte der EU in dem Land gesichert werden müssten, könnten die Gespräche auch acht Jahre oder länger dauern. Die Beitrittsperspektive würde die Sicherheit der Ukraine erhöhen und Russland ärgern. Aber da müssen sie durch.
2014 ist der Konflikt in der Ukraine zwischen Kräften, die das Assoziierungsabkommen mit der EU wollten und denen, die dagegen waren, eskaliert. Birgt das Thema EU-Mitgliedschaft weiter Sprengstoff?
Die Ukraine kann doch auch gleichzeitig über bessere wirtschaftliche Beziehungen mit Russland verhandeln. Dann könnten alle Seiten gewinnen.
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