- Politik
- Ukraine-Konflikt
Eskalationsgefahr im Osten
Im ukrainischen Konfliktgebiet Donbass ist die Lage so angespannt wie lange nicht
Neun Grad, Sonnenschein und volle Restaurants am Sonntag: Trotz der aktuellen Zuspitzung in der umkämpften ostukrainischen Industrieregion Donbass scheint das normale Leben in der Hauptstadt Kiew nach wie vor unverändert weiterzugehen. Beim genaueren Hinhören ist die Stimmung dennoch etwas gedrückt. »Ich kann mir in Sachen Russland wirklich alles vorstellen. Sie könnten jetzt eigentlich alles Mögliche umsetzen«, sagt ein junger blonder Mann zu einem Freund am Kontraktowa-Platz im historischen Bezirk Podil. »Da hast du Recht«, entgegnet der. »Ich glaube aber nicht, dass sie groß angreifen. Im Donbass wird aber bestimmt irgendein Scheiß stattfinden.«
Obwohl die gesellschaftliche Situation in der Ukraine tatsächlich entspannter wirkt als oft im Westen angenommen, sind die aktuellen Entwicklungen im Alltag so präsent wie seit 2015 nicht mehr. Auch die gegenüber dem Westen eher kritische Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der Münchner Sicherheitskonferenz wird auf der Straße besprochen - und meist überraschend einstimmig positiv bewertet. Zu groß sind aktuell die Irritationen über die doppeldeutige Politik der westlichen Länder, die einerseits von der gemeinsamen Solidarität gegenüber der Ukraine schwärmen und andererseits teilweise ihre Diplomaten abziehen und Botschaften in den Westen des Landes verlegen. Am meisten wird jedoch darüber spekuliert, was der Kreml nun unternehmen könnte und in welcher Form.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Das ist gerade in dieser Woche durchaus verständlich. Denn nachdem der russische Präsident Wladimir Putin während der Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz deutlicher als zuvor und vollkommen grundlos von einem »Genozid« im Donbass sprach, entwickelt sich die Situation in den umkämpften Gebieten nicht linear. Nicht nur registrierte die Beobachtermission der OSZE alleine am Freitag rund 1500 Verletzungen des Waffenstillstandes in der Nähe der Kontaktlinie, während es etwa in Donezk selbst eine Autoexplosion gab. Auch haben die Machthaber der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk überraschend eine Evakuierung der Zivilbevölkerung in den benachbarten südrussischen Bezirk Rostow verkündet.
Bis zu 700 000 Menschen sollen nach offiziellen Angaben alleine aus der Donezker Region nach Rostow fahren. Rund 40 000 Menschen aus dem Donbass haben laut dem russischen Katastrophenschutz bereits die Grenze überquert. Als Grund für diese Aktion wird ein angeblich bevorstehender Angriff der ukrainischen Streitkräfte genannt, der allerdings von Kiew kategorisch dementiert wird. Gleichzeitig blockiert Russland die Durchführung einer Sitzung der Trilateralen Kontaktgruppe, bestehend aus der Ukraine, Russland und der OSZE, die für den Minsker Prozess eine wichtige Funktion hat. Russland verlangt, dass die Ukraine sich mit den prorussischen Separatisten absprechen solle. Kiew weist das kategorisch zurück.
Außer der Forderung nach direkten Verhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten sieht es derzeit so aus, als ob der Kreml mit seinen Schritten Kiew zur Umsetzung des Minsker Abkommens zwingen will - eines Dokuments, das im Februar 2015 dafür sorgte, dass der große Krieg, der bisher nach UN-Angaben fast 14 000 Menschenleben kostete, sich auf die Kontaktlinie reduzierte. Für die Ukraine, die das Minsker Abkommen unter Gefahr der drohenden militärischen Niederlage unterschrieb, sind die von Deutschland, Frankreich und Russland mitverhandelten Vereinbarungen von Anfang schwer zu verdauen gewesen. Dass die Ukraine laut Minsk die Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbass erst zurückbekommen würde nach Abhaltung der für die Re-Integration der besetzten Gebiete notwendigen Kommunalwahlen, sorgte immer für bedeutende Sicherheitsbedenken. Deswegen bezeichnete Selenskyj jüngst in einem Interview mit dem Onlineportal RBK Ukrajina das Abkommen als schlecht ausformuliert.
Das größte aktuelle Problem für die Ukraine ist aber die durch das Minsker Abkommen notwendige Erteilung des Sonderstatus für die heute besetzten Gebiete - vor allem im Zusammenhang mit der 2019 begonnenen Ausgabe russischer Pässe im Separatistengebiet. Rund 770 000 Stück wurden bisher an die Bewohner im Donbass ausgegeben, auch die politische und wirtschaftliche Integration der selbst ernannten Volksrepubliken mit Russland schreitet voran.
Wie die Ukraine nun unter solchen Umständen den Gebieten wichtige Sonderrechte wie zum Beispiel eine eigene Volksmiliz erteilen soll, ist der Regierung in Kiew unklar - und daher scheint es unrealistisch, dass die Ukraine trotz des großen Drucks Russlands darauf eingeht. Gleichzeitig droht Russland aktuell nicht nur mit militärischer Macht, sondern auch mit der möglichen Anerkennung der Volksrepubliken durch Moskau. Dazu hat die russische Staatsduma einen scharfen Appell an Putin verabschiedet. Bisher betonte der Kremlchef seine Treue zum Minsker Abkommen, was nicht überraschend ist, denn die Vereinbarungen sind vor allem für Russland vorteilhaft. Die Anerkennung der Volksrepubliken würde den Ausstieg Moskaus aus dem Minsker Prozess bedeuten und eher die Ukraine freuen, da diese dann die aus ihrer Sicht inakzeptablen Forderungen des Kremls nicht mehr erfüllen müsste.
Da es aktuell aber keine Anzeichen für einen Kompromiss auf Basis des Minsker Abkommens gibt, ist nicht ausgeschlossen, dass Russland tatsächlich diesen Schritt geht und womöglich seine militärischen Aktivitäten im Donbass ausweitet, um eine neue Ausgangslage zu schaffen - und die Ukraine doch noch zur Erfüllung von Minsk oder gar zu einem neuen Abkommen zu zwingen. Das macht die Ausgangslage im Donbass so gefährlich wie seit Februar 2015 nicht mehr, als die Minsker Vereinbarungen unterschrieben wurden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.