Hilfe, wir sind doppelte Passagiere

Komplex und genial: »Die Anomalie« von Hervé Le Tellier

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Hervé Le Tellier ist eigentlich kein Bestsellerautor. Von dem 1957 in Paris geborenen Mathematiker und Schriftsteller sind zwar schon mehr als 30 Buchtitel erschienen, aber das breite Publikum erreicht er für gewöhnlich nicht. Er schreibt Gedichte, auch mal experimentelle Prosa, ist Kolumnist von »Le Monde« und Vorsitzender der Schriftsteller-Vereinigung »Oulipou«, deren Prosa gewissen Formzwängen gehorcht und der unter anderem schon so illustre Figuren wie Italo Calvino, Georges Perec, Marcel Duchamp und Harry Mathews angehörten.

Doch Le Telliers Roman »Die Anomalie«, für den er 2020 den wichtigsten französischen Literaturpreis, den »Prix Goncourt« erhalten hat, stürmte in Frankreich die Bestsellerlisten, bald soll er sogar als Serie verfilmt werden. Dabei ist »Die Anomalie« keineswegs konventionelle Belletristik, sondern ein literarisch anspruchsvoller fantastischer Roman, der mit einer Vielzahl an Charakteren, geschickt ineinander verwobenen Handlungseben und einer nicht ganz einfachen Erzählstruktur aufwartet, die an eine philosophische Versuchsanordnung erinnert.

Es geht um die Atlantiküberquerung eines Passagierflugzeugs. Eine Boeing 787 fliegt im März 2021 von Paris nach New York und landet dort. Aber im Juni 2021 taucht dasselbe Flugzeug plötzlich noch einmal am Himmel über dem Atlantik auf und landet wieder in den USA, sodass die mehr als 200 Passagiere plötzlich doppelt vorhanden sind.

Le Tellier erzählt diese Geschichte anhand von knapp zehn Passagieren, deren Biografien er vor und nach dem Flug detailliert und sehr lebendig in Szene setzt. Da gibt es einen Auftragsmörder, der gerade von einem Job zurückkommt und unterwegs ist zu seiner Familie. Die achtjährige Sophia fliegt mit ihrer Mutter zum Vater, einem traumatisierten Afghanistan-Kriegsveteranen. Ein erfolgloser französischer Autor und Übersetzer leidet an einer Depression und schreibt an einem Text mit dem Titel »Die Anomalie«. Und ein nigerianischer Popstar, der sein Schwulsein versteckt, hofft auf einen legendären Auftritt in New York. Bis das Flugzeug in einen gigantischen Sturm gerät und im Abstand von ein paar Monaten zweimal landet.

Dazu gesellen sich bald eine ganze Horde Geheimdienstmitarbeiter, Militärs, Mathematiker, Logiker, Philosophen, Psychologen, Religionsführer, Politiker und was sonst so aufgefahren wird, um die in einem Hangar versteckte, im Juni gelandete Maschine und die dort internierten Passagiere zu untersuchen. Schließlich geht man doch mit der ganzen Geschichte an die Öffentlichkeit, weil sich diese »Anomalie« einfach nicht auf Dauer unter den Teppich kehren lässt.

Ein genialer Roman, der recht süffig geschrieben ist und wegen der vielen Erzählebenen dem Leser dennoch einiges abverlangt. »Die Anomalie« lebt vor allem von der Ironie, mit der dies alles erzählt wird. So taucht hier mehrmals ein Donald Trump nachempfundener US-Präsident auf, der kaum in der Lage ist, die Vorgänge zu verstehen und sich ziemlich idiotisch verhält. Zwei findige Mathematiker, die nach 9/11 ein Notfallprotokoll für besondere Ereignisse im Luftverkehr entwickelt haben und für den absurden Fall einer nicht definierbaren Anomalie (genannt »Protokoll 42«, frei nach Douglas Adams) dafür Teile aus Steven Spielbergs »Die Begegnung der dritten Art« übernommen haben, stehen plötzlich auf dem Hangar und sollen für Militär, Geheimdienst und Polizei eine Lösung aus dem Hut zaubern.

Der Roman nimmt am Ende ziemlich Fahrt auf. Jenseits der ineinander verschlungenen Biografien und dem fantastischen Ereignis der doppelt vorhandenen Menschen, die das kaum glauben können (zwei aus der ersten Maschine sind überdies zwischen März und Juni verstorben), präsentiert der Autor verschiedene Theorien, wie so etwas möglich sein könnte: Unter anderem lässt er Wissenschaftler, Politiker, Kirchenleute und Journalisten über die eine Hypothese streiten, nach der die meisten Menschen nicht wirklich existieren, sondern nur Simulationen seien. Das ruft dann bald auch religiöse Fanatiker auf den Plan. Am Ende arrangieren sich die Menschen mit diesem unglaublichen Vorfall, wobei Hervé Le Tellier ganz zum Schluss noch einen absurden Schlenker einbaut, der aber hier nicht verraten wird.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie. A.d. Franz. v. Romy Ritte u. Jürgen Ritte Rowohlt, 352 S. geb., 22 €.

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