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Polnisches Drehkreuz

In der Grenzstadt Przemyśl kommen täglich Tausende Flüchtende aus der Ukraine an. Doch nicht alle schaffen es dorthin

  • Ivan Furlan Cano, Przemyśl
  • Lesedauer: 5 Min.

Minütlich kommen Leute aus dem Gebäude für die Passkontrollen. An einer kleinen Treppe sammeln sich Menschen. Es wird durcheinander gerufen, einer hat ein Mikrofon, in das er immer wieder Städtenamen schreit. Rechts von ihm stapeln sich Wasserflaschen und Lebensmittel. Am anderen Ende des kleinen Bahnhofsvorplatzes stehen lokale und internationale Fernsehteams.

Es herrscht Trubel in der polnischen Grenzstadt Przemyśl. Im Laufe des Tages kommen hier Tausende Menschen aus der Ukraine an. Die Stadt mit rund 60 000 Einwohner*innen liegt knapp 13 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. Hier hält der Zug aus Lwiw, einer ukrainischen Großstadt nahe der Grenze. Es ist im Moment eine der wenigen Möglichkeiten, der Ukraine zu entkommen. Laut UN-Angaben sollen seit Beginn der russischen Invasion mehr als 660 000 Menschen in die ukrainischen Nachbarländer geflohen sein. Mehr als die Hälfte - so wird geschätzt - soll dabei nach Polen gelangt sein. Die meisten von ihnen bleiben im Land, wollen in die Großstädte oder zu Verwandten. Sie möchten trotz des Krieges in der Nähe der Ukraine bleiben.

In Przemyśl ist die Solidarität derzeit riesig. Hunderte Personen warten seit den Morgenstunden auf Menschen, die aus der Ukraine ankommen. Eine von ihnen ist Kataryna Friedlein. Sie verteilt Wasser, Hygieneartikel und Essen. Eigentlich wohnt sie in Kraków. Am Freitag nach der Arbeit reiste sie an und war überrascht, wie viele Menschen wie sie selbst gekommen sind, um den Ankommenden zu helfen.

Andere, wie Tomasz, stehen stundenlang mit selbstgemalten Schildern in der Hand vor dem Eingang des Bahnhofs. Sie sind aus anderen polnischen Städten angereist, vereinzelt auch aus dem Ausland. »Ich kann leider keine Menschen unterbringen, vielleicht ein bis zwei für eine Nacht. Aber ich kann sie nach Warschau fahren«, erklärt er. Die meisten seien sowieso schon mit einer Bleibe versorgt und würden nur jemanden brauchen, der sie dorthin fährt. Hier am Bahnhof kommen hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Männer an. Männer im wehrfähigen Alter müssen in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Viele der Flüchtenden sind sichtlich aufgelöst, einige weinen, andere halten Wartende minutenlang im Arm.

Eigentlich braucht man mit dem Zug nur rund zwei Stunden von Lwiw nach Przemyśl. Am Bahnhof in Lwiw warten Tausende Menschen auf einen Platz im Zug. Bilder in den sozialen Medien zeigen sie auf den Treppen der Zugunterführungen. An den Bahnsteigen wird gerangelt. Wer einen Platz im Zug bekommt, hat trotz der kurzen Distanz eine lange Fahrt vor sich. Die meisten Züge kommen nämlich mit erheblicher Verspätung an, teilweise zwischen acht und 13 Stunden. »Wir standen zwei Stunden mitten im Wald, ohne Licht«, erzählt eine ältere Frau, die mittlerweile Polen erreicht hat. Der Zug sei voll gewesen, überall Familien mit kleinen Kindern. Und immer die Unsicherheit, was als Nächstes passiert. Jetzt sei sie auf dem Weg zu ihrer Tochter in Deutschland.

Andere kommen über den Grenzübergang an der Autobahn. Sie reisen mit Autos oder Bussen an und laufen die letzten Meter über die Grenze zu Fuß. Auf der polnischen Seite werden sie von Bussen der Feuerwehr eingesammelt und zu einem Parkplatz gebracht. Dieser wurde in kürzester Zeit zu einer Verteilstelle für Menschen auf der Flucht umgebaut. Einige freiwillige Helfer*innen rufen Städtenamen in die Menge, andere melden sich mit der Anzahl an Plätzen, die sie frei haben. Neben ihnen stehen Reisebusse. Darunter auch einer aus Deutschland, organisiert von dem Kollektiv No Nation Truck, gemeinsam mit dem Berliner Soli-Bus e.V. Nach wenigen Stunden ist der Bus voll und begibt sich mit 45 Menschen in Richtung Berlin. Am anderen Ende werden Zelte und Dixi-Klos aufgebaut. Es scheint, als bereite man sich auf noch mehr Menschen vor, die in den kommenden Tagen und Wochen kommen könnten. Die Vereinten Nationen schätzen, dass sich bis zu fünf Millionen Menschen in der Ukraine auf die Flucht ins Ausland begeben könnten.

Trotz der großen Solidarität gibt es auch Berichte von rassistischen Vorfällen an der polnischen Grenze. So kursieren Aussagen von Betroffenen, die davon abgehalten wurden, die Grenze zu überqueren - weil sie Schwarz sind. Sie sollen demnach aus Zügen wieder rausgeschmissen worden sein. Andere berichten auf Twitter davon, mittlerweile die zweite Nacht an der Grenze geschlafen zu haben, während ukrainische Staatsbürger*innen durchgelassen werden. Viele, die von einer rassistischen Behandlung erzählen, waren in die Ukraine zum Studieren gekommen, um zu arbeiten, oder sie hatten dort Schutz gefunden.

Ein junger Mann erzählt, dass vor einigen Tagen sein Aufenthaltsvisum ausgelaufen sei. Doch dieses zu verlängern, sei nicht möglich, jetzt interessiere sich dafür in der Ukraine niemand mehr. Für Menschen ohne europäischen Pass ist es völlig ungewiss, was mit ihnen nach der Ankunft in Polen geschieht. Ob sie Schutz bekommen, sich frei bewegen können oder nicht, das weiß bisher niemand so genau.

Ukrainische Staatsbürger*innen dürfen zumindest 90 Tage ohne Visum in die Europäische Union einreisen. Die EU-Kommission möchte beim nächsten Treffen der EU-Innenminister*innen einen Vorschlag zum vereinfachten Zugang zu vorübergehendem Schutz ohne lange Asylverfahren einbringen. Eine solche Regelung ist nach einer Richtlinie möglich, die nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren geschaffen wurde. Bis jetzt wurde diese aber noch nie angewendet, auch nicht 2015 und 2016, als viele Flüchtlinge nach Europa kamen.

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So beeindruckend die Solidarität und Hilfeleistung aktuell ist, so deutlich zeigt sich allerdings auch eine Doppelmoral der EU. Noch heute sitzen an der polnisch-belarussischen Grenze Menschen inmitten des Winters fest. Auch dies sind Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, aber aufgrund ihrer Herkunft werden sie anders behandelt.

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