Glockengeläut und Kanonendonner

Alle Welt zeigt mit dem Finger zur Zeit zu Recht auf Russland, meint Frank Schumann. Wir sollten bei dieser Geste allerdings bemerken, dass dabei stets auch drei Finger auf einen selbst zurückweisen.

  • Frank Schumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Freitag um die Mittagszeit, zum Verlag unterwegs am Ufer der Spree, läuteten die Glocken vom Berliner Dom. Blau-gelbe Fahnen auf den Zinnen der Museen knatterten im Wind. Einige Fassaden tragen noch die Narben des letzten Krieges. Zum letzten Mal war ich im Dom am 22. Juni 2016, als sich die deutsche Öffentlichkeit des Überfalls auf die Sowjetunion vor 75 Jahren erinnerte. Sachsens konservativer Regierungschef Stanislaw Tillich hielt eine würdige Rede von Scham und Schuld, in der ersten Reihe applaudierten Peer Steinbrück von der SPD und Ronald Pofalla von der CDU. Tempi passati.

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So muss es wohl auch am 1. August 1914 gewesen sein, dachte ich jetzt, am Freitag. Glockengeläut, viel Volk auf den Straßen, der Kaiser kannte keine Parteien mehr und im Parlament existierte eine einzige Koalition, die alsbald die Kriegskredite bewilligte.
Ach, wird man sagen, das war damals – heute liegen die Dinge ganz anders. Und auch wenn es bei Marx heißt, dass sich Geschichte zwei Mal zutrage, muss es nicht unbedingt stimmen. Ich bin mir nicht so sicher, ob Marx damit falschlag, denn ich erkenne oft Wiederholungen, wenn sich der Propagandanebel lichtet und das triumphalistische Geheul der vermeintlichen Sieger abschwillt.

Im Juni 1961 trafen sich Kennedy und Chruschtschow in Wien, es ging um Krieg und Frieden und um Berlin. Der Amerikaner und der Russe verabredeten, dass man sich künftig nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Großmacht einmischen wolle. Jede könne nach Gusto in ihrem Hinter- oder Vorhof schalten und walten, solange davon nicht die Interessen der anderen Seite berührt würden. Am 13. August, wenige Wochen später, wurde die Mauer in Berlin errichtet. Chruschtschow hatte so entschieden, nicht Ulbricht, und Kennedy legte sich wieder schlafen, nachdem seine Frage, ob von den sowjetischen Grenzmaßnahmen US-Interessen betroffen seien, abschlägig beantwortet worden war.

Am 19. Februar 2022 referierte Kamala Harris auf der Münchner Sicherheitskonferenz. In der Rede – auf Youtube zu sehen – zitierte die US-Vizepräsidentin ihren Chef mit den Worten, dass »unsere Kräfte« nicht in die Ukraine geschickt werden würden, um dort zu kämpfen. »Aber sie werden jedes Stück Nato-Territorium verteidigen.« Dieser Satz erinnert mich irgendwie an Wien 1961 und die dort getroffene Verabredung. Denn: Fünf Tage später drangen russische Truppen auf Nicht-Nato-Territorium vor.

Putin sei in eine Falle getappt, die ihm listig gestellt worden sei, sagen manche. Das klingt wie eine Entschuldigung. Andere behaupten, das sei imperiales Kalkül, und dabei schwingen die tradierten antirussischen Ressentiments und Hoffnungen mit: Jeder Schuss’ ein Russ’ ... So oder so, es macht die Sache nicht besser, offenbart allerdings ein erschreckendes Maß an Naivität und Selbstüberschätzung. Was sich auch in dem Köhlerglauben zeigt, man müsse nur von »Spezialoperation« sprechen, und schon ist der Krieg kein Krieg mehr.

Alle Welt zeigt nun mit dem Finger auf Russland. Dazu besteht durchaus Grund. Wir sollten bei dieser Geste allerdings bemerken, dass dabei stets auch drei Finger auf einen selbst zurückweisen. Der Hauptfeind steht im eigenen Land, wusste schon Liebknecht. Was haben die Friedensbewegung, was die Zivilgesellschaft, was linke Parteien unternommen, damit ein System kollektiver Sicherheit auf dem Kontinent – wie es mit der KSZE vor einem halben Jahrhundert angedacht war – entstehen konnte? Wie dringlich eine stabile Sicherheitsarchitektur war und ist, unterstreichen die Forderungen der Russen nach Sicherheitsgarantien, mehr aber noch die Kriege auf dem Balkan, am Golf, in Afghanistan, in Syrien und jetzt in der Ukraine. Wo ist der Widerstand gegen den nationalistischen Taumel, der den Kontinent erfasst hat und dafür sorgt, dass die erklärten Russenfeinde, die Stahlhelmer und Apologeten von Freedom and Democracy daran gehindert werden, in Parlamenten, Redaktionen und auf den Straßen den Durchmarsch zu machen?

Ja, der Krieg in der Ukraine ist barbarisch und grausam, er muss gestoppt werden – aber nicht mit Auf- und Wettrüsten und einer vollständigen Militarisierung der Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand die Gründung der Uno. Wir dürfen beim Frieden nicht auf das Ende eines Dritten Weltkrieges setzen. Dann wird es uns vermutlich nicht mehr geben.

Frank Schumann ist Journalist und leitet den Verlag Edition Ost.

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