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- Flüchtlingscamp in München
Leben in Ungewissheit und Angst
Seit Monaten kämpfen sierra-leonische Geflüchtete in München gegen ihre drohenden Abschiebungen
Ein Februarabend im Münchner Stadtteil Schwanthalerhöhe. Am Rande des Georg-Freundorfer-Platzes haben Geflüchtete aus Sierra Leone ein kleines Protestcamp errichtet. Damit wollen sie für ihre Menschenrechte eintreten, erklärt Barry, ein hagerer junger Mann, der sich die Kapuze seiner dicken Winterjacke gegen die Kälte über den Kopf gezogen hat. »Ich will nur die Möglichkeit bekommen, zu laufen und mein eigenes Leben zu leben.«
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Fast fünf Monate ist es her, dass sich sierra-leonische Geflüchtete aus ganz Bayern in München zu einem Protestcamp zusammengeschlossen haben. Mitte Oktober 2021 schlugen sie vor der Zentralen Ausländerbehörde im Stadtteil Obersendling wortwörtlich ihre Zelte auf. Der Grund: Etwa 300 Geflüchtete aus dem westafrikanischen Land waren zu Anhörungen vor einer sierra-leonischen Delegation geladen worden. Diese sollte die Identität der Menschen zweifelsfrei klären – damit ihnen Heimreisedokumente ausgestellt werden können. Denn die Asylgründe der Geflüchteten erkennt die Bundesrepublik nicht an. Und weil sie keine Pässe haben, konnte der deutsche Staat sie bislang nicht ausweisen. Mit den Anhörungen jedoch veränderte sich die Situation der Menschen dramatisch. Ihnen droht nun die Abschiebung.
Das gilt auch für Barry. »Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir kämpfen können«, sagt er über das Protestcamp, das erst von der Ausländerbehörde an verschiedene Orte zog und seit Ende Januar auf dem Georg-Freundorfer-Platz steht. Barry ist seit fünf Jahren in Deutschland, erzählt er, hat eine Ausbildung absolviert und spricht Deutsch und Englisch. Und lebt – wie seine Mitstreiter – seit den Anhörungen in ständiger Angst. »Wie lange wird das noch weitergehen?«, fragt er. Er meint das Warten, die Perspektivlosigkeit, die Ungewissheit. Von den Behörden hätten sie bislang keinerlei Antwort erhalten. Und die Stadtpolitik? Immerhin machen verschiedene Politiker und Fraktionen sich für die Anliegen der Geflüchteten stark. »Wenn wir immer noch hier sind«, entgegnet Barry resigniert, »dann glaube ich nicht, dass etwas passiert ist.«
Auch Hamado Dipama vom Migrationsbeirat München findet deutliche Worte. »Für mich ist das eine unterlassene Hilfeleistung«, erklärt er. »Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Stadt München eine Verantwortung hat, wenn Menschen seit einem halben Jahr in unserer Stadt Schutz suchen.« Statt lokale Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten, etwa den Leuten »Stadtasyl« zu gewähren, habe Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ein Schreiben mit Bitte um Lösungen an die Regierung Oberbayerns geschickt, in deren Kompetenzbereich die Zentrale Ausländerbehörde liegt. Dipama kritisiert: »Das ist eine Verantwortungsverschiebung.« Immerhin habe sich die bayerische Landeshauptstadt auf die Fahnen geschrieben, »sicherer Hafen« für Geflüchtete zu sein.
Dipama schätzt, dass es im April oder Mai zu Abschiebungen der Sierra-Leoner kommen könnte. »Wir wissen, dass es nach einer sogenannten Botschaftsanhörung nicht ganz so schnell geht.« Im Moment sei noch niemand abgeschoben worden, wie neben Dipama und Barry auch eine Sprecherin des bayerischen Landesamts für Asyl und Rückführungen (LfAR) auf nd-Anfrage bestätigt. Zudem habe »keine der angehörten Personen (…) bisher ein Passersatzdokument« bekommen, so die Sprecherin weiter. Über künftige Abschiebemaßnahmen könne sie allerdings keine Auskunft geben.
Die Geflüchteten müssen also weiter bangen. Viele von ihnen sind seit Jahren in Deutschland, haben Familien hier, arbeiten oder befinden sich in Ausbildung. Doch mit den Anhörungen kam der Entzug der Arbeitserlaubnis. Die Geflüchteten gelten nun als ausreisepflichtige Personen mit ungeklärter Identität, vom deutschen Staat zum Nichtstun verbannt. »Wir wollen etwas machen«, berichtet Issa Koroma im Protestcamp. »Wir haben Ziele.« »Ich versuche wirklich, mein Bestes zu geben«, sagt auch Issa Jalloh. Die beiden haben Ausbildungen angefangen, Sozialpfleger, Bäcker. Dann kam der Brief der Ausländerbehörde: Anhörungen zur Identitätsfeststellung. Das Ziel: die Zurückführung nach Sierra Leone. Dort allerdings drohten ihnen Gefängnis und Folter, berichtet Jalloh, wegen ihres Protests. Andere im Camp erzählen verzweifelt von Korruption, mangelnder Meinungsfreiheit und weiblicher Genitalverstümmelung, die in Sierra Leone nach wie vor weit verbreitet ist.
Mit dem Camp protestieren die Geflüchteten nicht nur dafür, ihr Leben in Deutschland fortführen zu können. Sie kämpfen auch gegen die Ungleichbehandlung, die sie – je nachdem, welche bayerische Ausländerbehörde jeweils zuständig ist – erfahren. Auch dafür wolle man Aufmerksamkeit schaffen, erklärt Mduduzi Khumalo. Der Münchner Aktivist hat geholfen, den Awareness- und Wärmebus der Münchner Caritas als Rückzugsort für die Geflüchteten im Protestcamp zu organisieren. Aus dem Innern des weißen Fahrzeugs, behangen mit einem »No deportation to Sierra Leone«-Banner und geparkt neben zwei Pavillons und einem Autoanhänger, dringen gedämpfte Stimmen und Musik.
Khumalo hofft, dass der Protest der Geflüchteten am aktuellen Standort die Zivilgesellschaft besser erreicht. Ein Helferkreis, der sich im Münchner Westend im Zuge der Ankunft von Geflüchteten 2015 gegründet hatte, soll reaktiviert werden, erzählt er. Zudem versuchen die Sierra-Leoner gemeinsam mit Aktivisten, ihrem Anliegen mehr Gehör zu verschaffen. Am 12. März veranstalten sie eine Kundgebung auf dem Georg-Freundorfer-Platz, in deren Rahmen auch eine Tombola geplant ist.
Seit Neuestem sammelt das Protestcamp zudem Sachspenden für Geflüchtete aus der Ukraine. »Wir agieren und reichen euch die Hand« sei das Motto, führt Khumalo aus. Damit wollen die Sierra-Leoner anderen Menschen helfen, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie selbst.
Als an diesem Februarabend die Nacht hereinbricht, müssen die Geflüchteten immerhin nicht mehr in den Zelten übernachten. Zum Schlafen habe eine katholische Kirche ihre Pforten geöffnet, berichtet Barry. Eine andere Gemeinde lasse sie tagsüber Duschen, Küche und Aufenthaltsraum nutzen. Für den Moment ist es eine Entlastung – eine dauerhafte Lösung ist es jedoch nicht.
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