Sich selbst am meisten, aber auch andere lieben

Bei Solo-Polyamorie wird die eigene Unabhängigkeit klar priorisiert. Doch das schließt langfristige, intime Verbindungen mit anderen Partner*innen nicht aus

  • Sophie Warmbrunn
  • Lesedauer: 6 Min.
Solo-Polyamorie ist wahrscheinlich die einzige Beziehungspraxis, die vor allem mit sich selbst eingegangen wird.
Solo-Polyamorie ist wahrscheinlich die einzige Beziehungspraxis, die vor allem mit sich selbst eingegangen wird.

Alex und Toni treffen sich an der Haltestelle, von dort aus sind es nur einige Minuten zur Bar. In der Bar trinken sie ein Bier, reden und stellen fest, dass ihnen nach Gin Tonic ist. Toni wohnt nicht unweit von der Bar, also geht es dorthin.

Lust und Laune

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Für beide gibt es einen Kaffee, lange Blicke werden ausgetauscht und Kleidungsstücke sitzen nicht länger am Körper. Die nächsten Wochen sehen sie sich fast täglich. Es ist intensiv, voller Sex, stundenlangem Austausch und es wird viel getextet: Sie mögen, welche Memes der Andere schickt. Bald haben beide keine Lust mehr auf Dating-Apps, gleichzeitig werden die algorithmischen Liebesmaschinen deinstalliert. Inzwischen sehen sie sich jeden Abend. Sie kochen, schauen Serien, schlafen gemeinsam ein – warum ziehen sie nicht einfach zusammen?

Wenn auch verkürzt, stellt sich mit kleineren und größeren Abweichungen für viele so eine Erfolgsstory monogamen Datings dar. Das Ziel, jemand »Besonderes« zu finden, zu lieben und die jeweiligen Leben zu einem zu verflechten, eventuell sogar ein neues in die Welt zu bringen. Dafür gibt es sogar einen Begriff: Beziehungsfahrstuhl. Im Englischen begegnet einem der ähnlich umständliche Begriff relationship escalator.

Gemeint ist damit das Bouquet an sozialen Handlungen und Codes (sich exklusiv daten, zusammenziehen, heiraten etc.), die gesellschaftlich verankert sind und den »besonderen« Wert romantischer Beziehungen untermauern. Dabei schwingt immer die Gewissheit mit, dass die Lebensalltage romantisch involvierter Personen irgendwann einer wird.

Einige wollen diesen Fahrstuhl aber gar nicht erst nehmen. Oder sie sind einige Stockwerke mitgefahren und haben schnellstmöglich die Treppen wieder heruntergenommen. Hier kommt das Konzept der Solo-Polyamorie zum Tragen.

Sexparties können eine Form von sexueller Befreiung und sexpositiver Kritik an der konventioneller Geschlechterordnung sein. Sie können aber auch klassische gesellschaftliche Muster normgetreu reproduzieren.

Solo-Polyamorie ist eine Spielart, romantische Beziehungen zu führen, die gerade erstarkendes Interesse erlebt. Dabei werden mehrere nicht-monogame und zum Teil auch romantische Beziehungen geführt, ohne jedoch die eigene Lebensführung mit jenem der romantischen Partner*innen zu verflechten. Gelegentlich beschreiben sich Personen auch als single-ish. Das eingangs eingeführte Dating-Skript steht quasi diametral zu dem, wie Solo-Polys ihre Romanzen führen. So unterschiedlich Solo-Polyamorie gelebt wird – zugrunde liegt fortwährend das Bedürfnis, autonom Entscheidungen zu fällen.

Jetzt würde man jedoch allen klassischeren verpartnerten Individuen Unrecht tun anzunehmen, dass Autonomie bei Ihnen nicht sehr weit oben auf der Werteliste stehen würde. Interessanter ist aber, die Schnittmengen auszukundschaften, die Solo-Polyamorie zu anderen Formen von Beziehungskonzepten hat, die gleichfalls den erwähnten Beziehungsfahrstuhl auf den Kopf stellen.

Wer nicht daran interessiert ist, eine romantische Nummer 1 zu haben, hätte zum Beispiel mehr Raum dafür, platonische oder andere bedeutungsvolle Bindungen ins Zentrum der eigenen Beziehungsgefüge zu stellen. Die Psychologin Doreen Kruppa etwa verfasst ihre Dissertation über »freundschaftszentrierte Lebensweisen«. In einem gleichnamigen Aufsatz berichtet sie von Menschen, deren engster Kreis sich aus Freund*innen zusammensetzt, mit denen der Alltag bestritten wird und die in Notsituationen nur eine Kurzwahl weit weg sind. Liebesbeziehungen werden zwar geführt, sie werden aber eher nicht über Freund*innenschaft gestellt. Zentral ist dabei genau auszuloten, wie sich alle Parteien das gemeinsame Zusammensein wünschen und vorstellen. Wer nicht (mehr) gängigen Beziehungsskripten folgt, muss für Dynamiken Worte finden, die neu und vielleicht auch unbequem sind. Ein Prozess, der Solo-Polys nicht unbekannt ist.

Oft kommen Solo-Polys aber gar nicht so weit. Unbekannte Konzepte müssen erst mal verarbeitet werden. Dabei bleiben viele, für die Solo-Polyamorie neu ist, oftmals bei der Annahme hängen, dass es sich lediglich um bindungsphobische Singles oder Möglichkeiten zu unverbindlichem Sex halten würde. Solche Auslegungen, insbesondere in alternativen/linken Dating-Kontexten, machen deutlich, dass das Kleinbürgertum auch vor subversiven Geistern nicht Halt macht. Interessanterweise sind oft jene Paare, die sich damit brüsten, eine offene Beziehung zu führen, dieselben, die so tief in ihrer Zweisamkeit stecken, dass nicht einmal ein geplantes erstes Date mit einer neuen Person in ihr Leben passt; der spontane Vino am späten Abend muss reichen.

Es scheint befremdlich, eine Person zu daten, die klar kommuniziert, wie weit eine romantische Verbindung in das Leben hineingelassen wird. Die auch indirekt aufzeigt, dass Liebesbeziehungen für viele nur Eskapismus von sich selbst sind. Denn so progressiv es theoretisch auch ist, offene Beziehungen zu führen – an denjenigen, die zusätzlich zu den Hauptpartner*innen gedatet werden, äußert sich häufig der mangelnde Respekt für jene, die nicht ihrerseits Teil eines Paares sind.

Die mathematische Tatsache »Zwei Personen sind mehr als eine« scheint auszureichen, um die Absprachen des Miteinanders so auszulegen, dass zuallererst die Stabilität der Paarbeziehung als unantastbare Priorität für alle zu gelten hat. Wer um die Stabilität seiner Liebesbeziehung besorgt ist, sollte diese vielleicht gar nicht erst öffnen und via Dating andere Personen mit in die Misere ziehen.

Oft sind Solo-Polys in solchen Fällen diejenigen, die zurückstecken und sich statt in einer Liaison, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten ernst genommen werden, auf dem »War schön gewesen, aber meine offene Beziehung braucht gerade all meine Aufmerksamkeit«- Abstellgleis wiederfinden.

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Mit Solo-Polyamorie geht einher, dass die eigene Unabhängigkeit klar priorisiert wird. Und es ist wahrscheinlich die einzige Beziehungspraxis, die vor allem mit sich selbst eingegangen wird. Mögliche Partner*innen treten also auf ein Spielfeld, auf dem die Grundregel: ‚Unsere Lebensalltage bleiben separat‘ feststeht, aber alles Weitere ausgehandelt wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass alles Romantische per se unverbindlich ist. Oder einfacher: Langfristige, intime Verbindungen zu kreieren, ist auch vielen Solo-Polys ein aufrichtiges Anliegen. Und in einer solchen Verbindung sind auch Solo-Polys für ihre Partner*innen emotionaler Anker, Rat gebend und mit ihrer kompletten Aufmerksamkeit bei Ihnen. Trotz all dieser und weiterer Fallstricke ist Solo-Polyamorie als Beziehungspraxis ermächtigend – insbesondere für Frauen.

Unverpartnerte Frauen sind zufriedener mit ihrem Leben als ihr männliches Gegenstück. Gerade sie können besonders von den Vorzügen der Solo-Polyamorie profitieren. Sie führt nämlich vor Augen, wer zugunsten einer neuen romantischen Beziehung hinten angestellt wird, wohin plötzlich mentale Energien fließen müssen und wo es nur zähneknirschend zu einem Kompromiss kommt.

Denn auch in der vermeintlich offenen Zweierbeziehung wird oftmals nur der gesellschaftliche Konsens reproduziert, dass der Großteil der Care-Arbeit von Frauen* geschultert wird. Vielleicht ist das ein ganz schön schlechter Tausch, um im Gegenzug der Illusion von Erfüllung durch romantische Lieben zu erliegen – wenn es doch auch anders geht.

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