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Der Charme der Linie an und für sich

Im Kunstmuseum Stuttgart werden Werke der nach Venezuela emigrierten Gertrud Goldschmidt gezeigt

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Einhundert Werke von Gertrud Goldschmidt, genannt Gego, überließ 2017 die Fundación Gego in Caracas dem Kunstmuseum Stuttgart als Dauerleihgabe. Das Museum zeigt derzeit Werke aus dieser Leihgabe in der Ausstellung »Gego. Die Architektur einer Künstlerin«. Dabei wird besonders dem grafischen Werk der 1912 in Hamburg geborenen und 1994 in Caracas gestorbenen vielseitigen Malerin und Zeichnerin geschenkt.

Gego studierte von 1932 bis 1938 Architektur- und Ingenieurwesen an der Technischen Hochschule Stuttgart. Einer von Gegos Professoren war Paul Bonatz, der sich mit Kollegen dafür einsetzte, dass die jüdische Studentin am 1. Juli 1938 ihre Abschlussprüfung ablegen konnte und am 24. November 1938 - zwei Wochen nach den Novemberpogromen - ihr Diplomzeugnis erhielt.

1927 hatte sich der für seinen Natursteinmonumentalismus bekannte Paul Bonatz (der 1911 den Stuttgarter Hauptbahnhof entwarf) zusammen mit Paul Schmitthenner, wie Bonatz einer der führenden Köpfe der »Stuttgarter Schule«, gegen die von Vertretern des Neuen Bauens errichtete Weißenhofsiedlung gestellt. Später wurde Bonatz zu Hitlers Chef-Autobahnbrückenbauer und arbeitete ab 1939 an Albert Speers Planungen zu Groß-Berlin mit. 1936 schrieb Bonatz an einen Freund: »Für unsereinen gibt es nur eine Sache, deretwegen wir alles bisherige preisgeben: das sind die Aufgaben.« Bonatz diente sich den Nazis an, war aber offenbar kein Antisemit.

Gego flüchtete 1939 über England nach Venezuela. Nach erster Ehe, zwei Kindern und der 1952 angenommenen venezolanischen Staatsbürgerschaft wandte sie sich mit ihrem neuen Lebenspartner, dem Grafiker Gerd Leufert, 1953 der Kunst zu. Es entstanden erste Holzschnitte, Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde. Leufert habe sie gelehrt zu sehen und zu entdecken - etwas, das man im Ingenieurswesen und der Architektur nicht lerne. In der Architektur, so Gego, sei es darum gegangen, »Linien mit einer klaren Bedeutung zu zeichnen, Linien, die Grenzen von Formen oder Räumen festlegen, die aber kein Eigenleben hatten.« Später notierte sie in ihren »Sabiduras«, erst Jahre später habe sie den Charme der Linie an und für sich entdeckt, sowohl jener im Raum als auch jener, die auf eine Oberfläche gezeichnet wird.

Mitte der 50er begann Gego auch, an dreidimensionalen Werken zu arbeiten, sie experimentierte dabei mit »Linien« aus Edelstahl, Draht, Aluminium oder Nylon. Sie wurde zu einer der führenden Vertreterinnen der venezolanischen Kinetik- und Op-Art-Bewegung, obwohl sie sich nie mit einer Kunstrichtung identifizierte.

In der Ausstellung werden zunächst die Stuttgarter Kontakte der Studentin Goldschmidt aufgezeigt, zu denen neben dem bereits erwähnten Bonatz der deutsch-österreichische Maler und Grafiker Karl Schmoll von Eisenwerth gehörte. Er lehrte seine Studierenden, dass das Zeichnen immer von einem Prozess der Übersetzung und der Abstraktion begleitet wird. Bei ihm lernte Gego, anhand von freien Schraffur- und Linienpraktiken körperhafte Formen in der Fläche zu entwickeln. Bei dem Architekten Wilhelm Tiedje und dem Maler, Grafiker und Architekten Rudolf Burkhardt standen konstruktiv-planerische Zeichenmethoden zur Gestaltung konkreter Entwürfe auf dem Programm.

Der Ausstellungsparcours, in dem die Vielfältigkeit des grafischen Werks von Gego deutlich wird, ist thematisch gegliedert. Die Zeichnungen, Blindprägungen, Lithografien und Drucke werden unter Titeln wie »Räume abstrahieren«, »Neue Geometrien formen«, »Übersetzungen« oder »Verflechtungen« präsentiert. Aus ihrem Architekturstudium kannte Gego die Vorteile einer rigiden Struktur, wusste sie aber auch zu brechen. So erweist sich etwa das orangefarbene Raster eines vermeintlichen Planpapiers, über den Gego einen Kaltnadeldruck setzt, bei genauer Betrachtung als detailliert erarbeiteter Siebdruck der Künstlerin.

Kuratorin Stefanie Reisinger schreibt im Katalog zur Ausstellung, Gego definiere in ihren Werken nie eine bestimmte Fläche oder eine bestimmte räumliche Form. Vielmehr setze sie sich damit auseinander, »wie Flächen und Räume dargestellt werden können«. Die frühen Arbeiten auf Papier zeigten noch deutlich, »dass sich die Künstlerin dabei auf bestimmte architektonische Entwurfstechniken, Überlegungen und Raumbildungsverfahren beruft«. Gego habe gewusst, »dass eine abstrakte Formensprache und unterschiedliche Linienpraktiken dabei helfen können, räumliche Ideen in der Fläche darstellbar zu machen«. Gego übertrage dabei »nicht einfach zeichnerische Arbeiten in den Raum«, sondern werde diese »auch wieder in die Fläche zurück«. Deshalb nähmen »die Schattenzeichnungen von Gegos dreidimensionalen Werken an der Wand eine im Lauf ihrer Karriere zunehmend wichtige Rolle ein«, so Reisinger.

»Gego. Die Architektur einer Künstlerin«, Kunstmuseum Stuttgart, bis 10. Juli 2022. Der Katalog erschien bei Spector Books.

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