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Das Unglücksglück
Zum 95. Geburtstag des Schriftstellers Martin Walser
Alter ist grandios, wenn es die Kurve zum Schweigen schafft. Zur Behauptungsscheu. Zur Fähigkeit, diesen entsetzlichen Erfahrungsprotz zu zügeln. Martin Walser, der nun 95 wird, hat mehrere Bücher über das hohe Alter geschrieben. Voll Schreck, voll Staunen.
Seine Romanmenschen stehen dort, wo sie alles haben, aber nichts mehr Bestand hat - und wo das Wünschen erbarmungswürdig wird. Weil es nur ein Illusionsschneewehen ist im Hochsommer der anderen. Walsers Spätwerk, das sind sprachkönigliche Erzählungen über das Gemisch aus bemoosten Erwartungen, trotzigen Verlockungen und einem lüstern gebliebenen Begehren, das doch seine Zugehörigkeit zur Gattung der Nachklänge nicht verbergen kann. »Ich huste, also bin ich.« So heißt es im Roman »Statt etwas« von 2017.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Das Wort, das er gern sagt, heißt »Unglücksglück«. Glück nicht ohne Unglück. So, wie Heimat nicht ohne Verlust denkbar ist. Utopia nicht ohne Irrglaube. Fortschritt nicht ohne Bewahrung. Liebe nicht ohne Schmerz. Schreiben und reden? Ja. Aber: nicht immer das Bewusstsein anderer Leute kneten wollen. Schreiben und reden nur, »weil ich wissen will, ob ich allein bin mit dem, was ich denke und wie ich denke«.
Nie wollte Walser ein gesellschaftskritischer Schriftsteller sein: »Wenn ich einen Roman schreibe, denke ich doch nicht daran, ob ich jetzt ein Linker bin oder ein Halblinker.« Ein gesellschaftskritischer Vorsatz sei »uninteressant«. Verhöhnt er damit Menschen, die Mühe hätten, Ungerechtigkeit zu ertragen? Walsers Antwort: »Ich verhöhne höchstens mich selbst. Und solche, die sind, wie ich war. Ich habe erlebt, auch an mir, wie der Linke sich für den besseren Menschen hält. Aber es gibt keine besseren Menschen.«
Das Grundmotiv dieses Schriftstellers: Kitt wegzusprengen. Zwischen dem, was einer anderen Leuten sagen will, und dem, was er von sich selber verschweigt. Ehrlich ist nur jene Überzeugung, die immer auch um ihr Ungenügen weiß - solch Wissen sorgt in den lauten Brusttönen für die nötigen Einschübe des Leisen. Die Hauptkrankheit in den Sprach- und Sprechgewerben sieht Walser im dauernden, langweiligen »Rechthabenmüssen«.
Schreiben ist dem Autor das, was einem seiner Bücher den Titel gab: »Die Verwaltung des Nichts«. Nichts - das ist purer Hölderlin. Ist das Ehrlichste, was der Mensch über seine Bestimmung sagen kann. Ankerwürfe in dünnste Luft hinein. Walser sagt: »Ich habe Angst vor der Wirklichkeit.« Schreiben als Glück, solche Leerstellen des Lebens zu füllen - aber nicht dadurch, dass man etwas besser weiß. Sondern? »Man kann die Fülle so feiern, dass man ihr den Mangel, aus dem sie stammt, nicht ansieht.«
Die Friedenspreisrede von 1998, in der Frankfurter Paulskirche: Natürlich steht Walser zu seiner Rede. »Aber ich weiß inzwischen, dass ich einen Fehler gemacht habe: Ich wollte über das Gewissen reden und darüber, dass es nicht delegierbar sei. Aber verglichen mit dem Tatbestand Auschwitz ist das alles Quatsch, Quatsch, Quatsch.« Sein Sohn Jakob Augstein schrieb, er kenne die Lust seines Vaters am Reizwort, also glaube er ihm nicht jede Verwunderung darüber, dass es Fettnäpfe in der Welt gibt. Aber: Er sieht in jenem öffentlichen Selbst-Gespräch des Vaters in der Paulskirche nach wie vor auch »das ultimative Experiment auf der Suche nach der freien Rede«.
Deutsche Geschichte. Sie wurde Walser zum Roman: »Ein springender Brunnen« (1998), das Buch über die Bodensee-Kindheit. Marcel Reich-Ranicki warf ihm vor, im Buch käme die Judenverfolgung nicht vor. Aber im Buch kommt ein wunderbarer Satz vor: »Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.« Eine dieser charakteristischen Walser-Hin-und-Herwendungen. Im Roman hatte sich Walser lediglich geweigert, die Perspektive seiner Kindergestalten zu verlassen. Im Sinne von Thomas Mann, der darauf bestand, »dass ein Erzählen ohne Vor- und Nachwissen, ohne eingeschaltete und steuernde Moral möglich, erlaubt, ja notwendig bleiben muss«.
Walser hat gegen den Vietnam-Krieg protestiert, hat erregt vom Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main berichtet. Bei einer Ausstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen betonte er: »Ein einziges Bild aus einem KZ, und wir haben nichts mehr zu sagen.« Er war ein Sympathisant der DKP, ohne je Parteimitglied zu sein. Er erinnert sich an ein Fußballspiel: »München gegen Moskau. Und plötzlich merke ich, die sind dafür, dass Moskau gewinnt.« Da war ihm klar: Wer so denkt, kommt politisch »nie auf einen grünen Zweig«.
Walser ist einer, der lieber vertrauen möchte, als immer nur misstrauen zu sollen. Oft ist er radikal selbstbekennerisch gewesen, hat sich freiwillig wehrlos in allen Widersprüchen bewegt, sodass die Angreifbarkeit sein Metier wurde. Er ist ein letzter großer Solitär der deutschen Literatur und zugleich der unsicherste deutsche Schriftsteller. Er ist auch der vorpreschendste deutsche Schriftsteller. Seine totale Hingabe daran, in Sprache ehrlich sein zu wollen (während Sprache doch gleichzeitig verbirgt!), machte ihn furios in der Technik, missverstanden zu werden.
Seit Auschwitz, so sein dauerwirkender Satz, sei kein einziger Tag vergangen. »Wenn ich etwas begreife, dann ist es die Abneigung, sich mit den Scheußlichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Wenn ich etwas begreife, dann ist es der Zwang, sich lebenslang mit den Scheußlichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert beschäftigen zu müssen.«
Walsers Essays sind Bekräftigung: Jeder Einzelne ist »eine Anstalt zur Lizenzierung der unvereinbarsten Widersprüche«. Am persönlichsten lernt ihn kennen, wer die Aufsätze über seine Dichterheiligen liest - Kafka, Robert Walser, Goethe, Jean Paul. Wo er Dichter verteidigt, verteidigt er am farbigsten, am feurigsten sich selbst. Ein Süchtiger danach, sich hinreißen zu lassen. Seine Romangestalten, von denen viele aus dem Mittelstand kommen, entfalten eine forcierte Geselligkeit des Kleinstirnigen. Mit Dichterverständnis reich ausgestattet. Wohlstandsgepolsterte Leerkörper. Altersgeile Lustträumer. Armselige Sehnsuchtsblicker - aus Augen, denen längst unüberschminkbare Tränensäcke beigegeben sind. Seelen, krumm geworden durch Arbeit am Status. Lauter Mitgemachte, eitel paradierend.
Aber auch: Kleinbürgertum als ein anderes Wort für Emanzipation, für die Bereitschaft, gegen die Moralisten und Belehrer durchs Leben zu kommen. Das schätze niemand gering. Und die Namen der Protagonisten sind von solcher Art, zum Beispiel: Gottlieb Zürn. Da ist alles drin, Herrschgebaren wie auch der arme Poet, das Weiche und das Fürchtige, das Gernegroße und das Gernefreche.
Walser, Jahrgang 1927, der westdeutsche Hörfunk-Pionier, der Dramatiker, der Tagebuchschreiber - er findet nach eigenen Worten keine Erfahrung, durch die er je das Ausmaß seines Vertrauens in den Menschen rechtfertigen könnte. Er beteiligt sich daher nie an jener Grobschlachtung des Lebens, wie wir es von Prokrustes kennen, der die Fremden ins Bett legte, das entweder zu lang oder zu kurz war. Am Ende war die Zu- nur eine Hinrichtung: alles passend zwar, aber tot. Bei Walser passt vieles nicht ins Landläufige, aber es lebt.
In einer Ballade hat der Schriftsteller vom Bodensee auf bestürzend schöne Weise, kristallin geradezu, in Dichtung gefasst, was in ihm so zieht und zerrt. Wie er die Dialektik von Sein und Haben empfindet. Er fühlt sich »gefesselt an den schon immer unerfüllbaren/ Wunsch. Die Welt streckt die Hände her,/ mir die Fesseln zu lösen. Ich habe, sag ich,/ nur einen Wunsch: gefesselt zu bleiben an/ den schon immer unerfüllbaren Wunsch.«
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