Wofür es kein Thermometer gibt
Pluralismus, Beliebigkeit, rote Linien: Wie das »nd« mit dem Ukraine-Krieg umgeht
»Liebe Journalisten, Verlage und Talkshow-Hosts«, schreibt die Autorin Marie von den Benken auf Twitter: »Wenn 10 000 Meteorologen sagen, dass es 40 Grad ist, ist nicht eure Aufgabe, jemanden zu finden, der sagt, es wären eigentlich nur 20 Grad, um ›auch unterschiedliche Meinungen zu hören‹, sondern die scheiß Temperatur zu messen.«
Guter Punkt - ist aber nicht immer leicht, weil man nicht zu jedem Thema das richtige Thermometer zur Hand hat. Wir misstrauen der FDP, die behauptet, ihre Steuersenkungen entlasteten die ärmeren Leute; den Wirtschaftsredaktionen, die uns glauben machen wollen, ein gut gelaunter Dax nütze uns allen; und 100 Lungenärzten, die sagen, dass Feinstaub keine Gesundheitsgefahr darstelle. Wir überprüfen selbst, was möglich ist, und unsere Quellen, so weit das geht.
Da derzeit russische Truppen vor Kiew stehen und nicht etwa ukrainische Truppen vor Moskau, sprechen wir von einem russischen Angriffskrieg, ohne dessen Vorgeschichte auszublenden. Wenn die Ukraine und Russland sich zu Details des Kriegsverlaufs widersprechen oder gegenseitig beschuldigen, ist die Sache schon schwieriger. Das erste Opfer des Krieges … Sie wissen schon.
Öffentlich-rechtliche Medien behelfen sich mit dem gebetsmühlenartig vorgetragenen Hinweis, dass sich diese oder jene Information nicht unabhängig überprüfen lasse. Die Grenzen dessen, was als richtig und wahr gelten kann, versuchen auch wir zu markieren. Wenn wir etwas nicht wissen können, stellen wir Fragen, auch wenn Ihnen und uns, liebe Leserinnen und Leser, Gewissheiten lieber wären. Insbesondere mit alten Gewissheiten, die manchen von Ihnen, wie wir Zuschriften entnehmen, am liebsten wären, können wir leider nur begrenzt dienen.
Und zu Schlussfolgerungen aus diesem Krieg gibt es in der nd-Redaktion, wie in der gesamten Linken, unterschiedliche Meinungen. Wie weit sollte die deutsche Unterstützung der Ukraine gehen, und wie kann dennoch eine Ausweitung des Krieges verhindert werden? Was können Linke in den Parlamenten und jenseits dazu beitragen, weiteres Leid und Sterben zu verhindern?
Nicht zuletzt: Wie weit geht der Pluralismus in der nd-Redaktion, in unserer Zeitung, und wo sind die berühmten roten Linien? Darüber streiten wir in der Redaktion fast jeden Tag; mal länger, mal kürzer. Die Zeitung muss ja auch noch fertig werden, jeden Tag. Und wie das so ist in Glaubens- und Überzeugungsfragen: Die Grenzen sind mitunter fließend. Wo endet beispielsweise Meinungsvielfalt, wo beginnt Beliebigkeit?
Dafür gibt es kein Thermometer, das exakte Ergebnisse bis zur zweiten Stelle nach dem Komma liefern könnte. Deshalb ist Diskussion wichtig; in der Redaktion, mit externen Autoren, zwischen Redaktion und Leserschaft. Als Mittel der Verständigung und des Verstehens, auch als Weg zur Erkenntnis in unübersichtlichen Zeiten. Beispielsweise in unserer Debattenserie »Linke, Krieg und Frieden«, in der es um Wahrheit geht und um Haltung. Wir sind gespannt, was da noch kommt. Sie hoffentlich auch.
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