Ein zweites Afghanistan

Der Krieg in der Ukraine wird für Russland ähnliche Folgen haben wie der Einmarsch am Hindukusch für die Sowjetunion

  • Helmut Dahmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Geschichte und Wiederholung

Von Finnen eroberter Sowjet-Panzer – das Fiasko der Roten Armee im Winterkrieg 1939/40 kann als Muster für die russische Aggression in der Ukraine gelten.
Von Finnen eroberter Sowjet-Panzer – das Fiasko der Roten Armee im Winterkrieg 1939/40 kann als Muster für die russische Aggression in der Ukraine gelten.
Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Vor mehr als einem Monat begann die russische Invasion in der Ukraine, für viele unerwartet und unbegreiflich. Die Gegenwart ist das Produkt ihrer Geschichte - will man also die Rätsel der Gegenwart verstehen, muss man auf ihre Geschichte zurückgehen. Tröstlichen Versicherungen, die Geschichte wiederhole sich nicht (oder wenn, dann nur als »Farce«), ist nicht zu trauen; vielmehr scheint die Geschichte voll von Wiederholungen und zwar von verhängnisvollen (man denke an die Folge der beiden Weltkriege und an die Folge von großen Massakern und versuchten Genoziden). Zudem gibt es offenbar einen Zusammenhang zwischen dem »Vergessen« unliebsamer Erinnerungen und der Wiederkehr des Vergessenen: Je angestrengter etwas vergessen wird, desto wuchtiger kommt es uns als Zukunft entgegen.

Eine Reprise des »Winterkriegs«

Auch der aktuelle Ukraine-Krieg nimmt sich wie die Reprise eines bekannten anderen aus, nämlich von Stalins gescheitertem »Winterkrieg« gegen Finnland, den er im Rahmen seines Pakts mit Hitler-Deutschland, also zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, vom Dezember 1939 bis Mitte März 1940 führte. In einem zeitgenössischen Kommentar zu diesem ersten Krieg auf finnischem Terrain im Zweiten Weltkrieg schrieb Leo Trotzki:

»Seinen subjektiven Neigungen nach ist Stalin heute zweifellos der konservativste Politiker Europas. Er wünscht, dass die Geschichte, nachdem sie einmal die Herrschaft der Moskauer Oligarchie gesichert hat, ihre Arbeit nicht verdirbt und zum Stehen kommt. … Stalin unterschätzte die lange Tradition des finnischen Volkes im Kampf um Unabhängigkeit und glaubte, die Regierung in Helsingfors allein durch diplomatischen Druck zum Nachgeben zwingen zu können. Er hat sich schwer verrechnet. Anstatt seinen Plan noch einmal zu überdenken, begann er zu drohen. Auf seine Anweisung hin versprach die Moskauer Prawda, Finnland innerhalb weniger Tage zu erledigen. In der ihn umgebenden Atmosphäre byzantinischer Kriecherei wurde Stalin selbst Opfer seiner Drohungen. Sie machten auf die Finnen keinen Eindruck, zwangen ihn aber zum sofortigen Handeln. So begann ein schändlicher Krieg - ohne Notwendigkeit, ohne klare Perspektiven, ohne moralische und materielle Vorbereitung … Die UdSSR sicherte sich im Nordwesten strategische Vorteile, doch zu welchem Preis. Das Prestige der Roten Armee ist untergraben, das Vertrauen der arbeitenden Massen und der unterdrückten Völker der ganzen Welt ist geschwunden. Die Folge ist, dass sich die internationale Stellung der UdSSR nicht verbessert, sondern verschlechtert hat. Stalin hat eine schwere persönliche Niederlage einstecken müssen.« Ersetzt man den Namen Stalins durch den Putins, die UdSSR durch Russland, Finnland durch die Ukraine und Helsingfors durch Kiew, so hat man das Schema der aktuellen Situation.

Selbstbestimmungsrecht und »Defätismus«

Auf dem heutigen ukrainischen Territorium gab es im vergangenen Jahrtausend nur selten selbstständige staatliche Gebilde. Wegen seiner fruchtbaren Böden und seiner Bodenschätze wurde dieses »Grenzland« (so die Bedeutung des Wortes Ukraine) stets wieder unter Anrainerstaaten aufgeteilt. Seit dem Ersten Weltkrieg bildeten sich linke und rechte Unabhängigkeitsbewegungen heraus. 1994 wurde die Souveränität des Landes im »Budapester Memorandum« von den Großmächten USA, Großbritannien und Russland garantiert.

Vor 100 Jahren, als es in Europa noch millionenstarke Arbeiterorganisationen gab, die bereit waren, soziale Reformen zu erkämpfen oder sich der Produktionsmittel zu bemächtigen, trat die sozialistische Anti-Kriegsbewegung im Hinblick auf die Auflösung der Vielvölkerstaaten Russland, Türkei und Österreich-Ungarn für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ein, und ihre radikalen Gruppen orientierten sich am »revolutionären Defätismus«. Das sollte besagen, dass revolutionäre Unruhen (wie Brotstreiks oder Streiks in der Rüstungsindustrie) mit dem Ziel der Übernahme der Staatsmacht ohne Rücksicht auf »nationale« Interessen, sogar um den Preis einer militärischen Niederlage des jeweiligen Landes organisiert werden sollten. Die nationen-übergreifende, internationale Allianz gemeinsamer gesellschaftlicher Interessen der Lohnarbeiterschaft (der »abhängig beschäftigten« Bevölkerungsmehrheit) sollte in jedem Fall Vorrang gegenüber den nationalen Interessen der besitzenden Klassen und ihrer Nationalstaaten haben.

»Bloodlands« und Albträume

Mehr als andere europäische Gesellschaften ist die ukrainische Bevölkerung durch die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts vorgeschädigt. Mit den baltischen Staaten, Polen und Belarus gehörte sie zu den (vom Historiker Timothy Snyder so genannten) »Bloodlands« (oder »Killing Fields«), in denen die beiden großen Menschenfresser-Regime des vergangenen Jahrhunderts, das deutsche und das sowjetische, ihre entsetzlichen Untaten begingen, die etwa 14 Millionen zivile Opfer forderten. »Etwa 3,5 Millionen Menschen fielen den stalinistischen Mordmaßnahmen zwischen 1933 und 1938 zum Opfer und weitere 3,5 Millionen deutschen Mordmaßnahmen zwischen 1941 und 1944. Noch einmal rund drei Millionen Ukrainer fielen im Kampf oder starben infolge des Krieges«, schreibt Snyder.

Über den Massengräbern der Ukraine wie über denen in der vormaligen Sowjetunion gehen die Geister der Erschlagenen um. Wiedergänger identifizieren sich mit den Angreifern von einst, bilden Gruppen und Banden und spielen (ähnlich wie auch in Deutschland) SA und SS nach. Putins Kriegspropaganda zufolge haben in der Ukraine drogensüchtige Nazis die Macht an sich gerissen und drohen der russischen Minderheit mit einem »Genozid«. Die Ukrainer wiederum erinnert die russische Invasion an den Einfall der deutschen, faschistischen Truppen im Sommer 1941.

Was ist Putin-Russland?

Nicht wenige Freunde Russlands und des Putin-Regimes verwechseln die heutige Russische Föderation mit der alten Sowjetunion und diese - retrospektiv - mit einem »Arbeiterstaat«, den sie gegen Imperialismus und Faschismus verteidigen wollen. Doch Stalins Terrorwelle der 30er Jahre vernichtete nicht nur die alte bolschewistische Partei, sondern blockierte nachhaltig auch die Spontaneität der sowjetischen Arbeiterklasse. So konnten sich Funktionärskader der KPdSU nach dem Scheitern aller Versuche einer »Reform von oben« vor drei Jahrzehnten der Produktionsmittel des Landes bemächtigen und sich als eine neue kapitalistische Klasse etablieren. Schiedsrichter ihrer Konkurrenzen und Verteidiger ihrer Privilegien ist der FSB, der Nachfolger von Stalins Geheimpolizei.

Die heutige Russische Föderation und ihre Verbündeten (wie Belarus) bilden einen staatskapitalistischen Block, der mit dem westlichen unter Führung der USA um Einflusszonen und Ressourcen konkurriert. Dabei sind die höchstentwickelten westlichen Wirtschaftssysteme mit ihren parlamentarisch-demokratischen oder autoritären Regimen denen des vormaligen Ostblocks - was Arbeitsproduktivität, Rüstungsausgaben, Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, Konsumchancen und Meinungsfreiheit angeht - überlegen. Darum sind sie das Ziel weltweiter Flüchtlings- und Migrationsbewegungen wie derzeit Hunderttausender Ukrainer. Die Putin-Führung versucht, im Bunde mit regimetreuen Oligarchen, die reale Rückständigkeit der noch immer überwiegend extraktiven russischen Wirtschaft durch den Rückgewinn verlorener Provinzen des Zaren- und Stalin-Reichs, durch die Stützung von Vasallenstaaten (wie Syrien oder Belarus) sowie durch die Errichtung von Militärstützpunkten in anderen Ländern (nach amerikanischem Vorbild) zu kompensieren.

Die Ukraine zwischen den Imperialismen

Die Ukraine droht gegenwärtig zwischen den tektonischen Schollen der großen imperialistischen Systeme zerrieben zu werden. Die gegenwärtige »Militär-Operation« steht in einer langen Reihe von militärischen Interventionen der Sowjetunion und Russlands, die sich gegen die antistalinistischen Revolten in Deutschland (1953), Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und Polen (1981) richteten, und von postsowjetischen Restaurationskriegen gegen Tschetschenien und Georgien. Dabei ging es stets um die militärische Sicherung des territorialen Bestands und um die Erweiterung von Einflusszonen; vor allem aber darum, ein Übergreifen der Unabhängigkeits- und Selbstverwaltungsbestrebungen in den Peripheriestaaten auf das Zentrum, auf Russland, zu verhindern. Putins Kriegsziel ist die Eroberung der gesamten Ukraine um jeden Preis. Krieg und Besetzung des Landes gegen den Widerstand der Bevölkerungsmehrheit werden für sein Regime ähnliche Folgen haben wie der gescheiterte Afghanistan-Krieg für die späte Sowjetunion.

Was tun?

Was kann die Anti-Kriegs-Opposition in Deutschland und im (neutralen) Österreich tun? Sie muss meines Erachtens prinzipiell sehr viel resoluter als bisher gegen die Militarisierung unserer Gesellschaften und für atomare Abrüstung eintreten. Im Hinblick auf die aktuelle russische Invasion der Ukraine muss sie deren Unabhängigkeit verteidigen und sich mit den russischen Antikriegs-Demonstranten solidarisieren. Soweit es Möglichkeiten dazu gibt, sollte sie an die russische Bevölkerung, die Duma-Abgeordneten und die Armeeführung appellieren, Putin in den Arm zu fallen, ihn abzusetzen und Neuwahlen herbeizuführen.

Waffenlieferungen aus europäischen Staaten und aus den USA an die Ukraine sind ohnehin im Gange, und es gibt keinen Grund, gegen die Lieferung von Panzerfäusten und Boden-Luft-Raketen zu protestieren. Ob die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine mit Hilfe weiterer wirtschaftlicher Sanktionsdrohungen der USA durchgesetzt werden kann, ist ungewiss. Da jede militärische Intervention der Nato zu einem atomaren Schlagabtausch (in Europa) führen kann, muss die pazifistische Opposition dagegen eindeutig Stellung nehmen.

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